Nelson Lakes – 2000 km besiegt
Angelus Hut
Der freie Tag verging so schnell, wie er nach den Strapazen der Richmonds gekommen war. Wir hatten uns einen leichten, kurzen halben Tag abseits des eigentlichen Te Araroa vorgenommen, hoch oben in den Bergen statt unten im Tal. Zwölf Kilometer sollten es sein, bis wir uns an einem Bergsee eine Pause gönnen wollten, bevor wir uns wieder unserem eigentlichen Ziel näherten. Unvollständige Planung sorgte dafür, dass wir eher 20 Kilometer auf dem Tacho hatten. Naja, fast ein Ruhetag. Wie von Neuseeland nicht anders zu erwarten, hatten wir, Connor und ich, einen atemberaubenden Tag im Zickzack hinauf auf den Mount Roberts, der sich mehr als 1000 Meter über unseren Ausgangsort St. Arnaud erhob.
Nach der Wanderung entlang des Rotoiti-Sees, durch Nadelwälder, auf einer Schotterstraße hinauf zum Parkplatz am Fuße des Berges, wo schon die ersten Tageswanderer mit ihren Autos auf uns warteten. Wir schienen die Einzigen zu sein, die mit ihren vollgepackten Rucksäcken die Nacht in luftiger Höhe verbringen wollten. Nach dem ersten Anstieg wurden wir mit einem Blick auf den See belohnt, der eine Stunde zuvor noch zu unseren Füßen gelegen hatte. Nur wenige hundert Meter weiter warnte uns ein Pappmännchen vor den Gefahren der vor uns liegenden Strecke: Die Höhe und das offene Gelände sind sehr anfällig für starke Winde, die einen scheinbar schnell wegblasen können.
Wir sind doch geübte Wanderer und das Wetter ist auch schön, erwidern wir nur mit einem müden Lächeln. Wenn uns nicht das Wetter einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, dann waren es unsere müden Knochen und die Vorfreude auf einen entspannten Tag, die uns den Tag schwerer erscheinen ließen. Nichtsdestotrotz hatten wir eine fantastische Aussicht, die uns völlig verborgen geblieben wäre, wenn wir dem eigentlichen Trail durch das Tal gefolgt wären. Das Schöne hier ist, dass so viele verschiedene Gesteinsarten nebeneinander zu liegen scheinen. Alle paar Kilometer ändert sich die Landschaft dramatisch, mit hell- bis dunkelgrauen Kieselsteinen, aus denen der Fels herausragt, als wäre er einfach durchbohrt worden.
Gelegentlich geben grasbewachsene Hügel den Blick frei auf andere Berge, die mit dunkelgrünen Wäldern bewachsen sind und bis zum Himmel reichen. Ein Berg nach dem anderen erhebt sich bis zum Horizont. Im Laufe des Tages versuchte ich immer wieder zu erraten, hinter welchem Gipfel unser heutiges Ziel auftauchen würde, eine Hütte für 28 Personen mit dem Namen Angelus, direkt neben zwei Bergseen, die in eine Art Krater hineingegossen zu sein schienen. Connor hatte schon angefangen zu scherzen, ob ich noch mehr von diesen kühnen Vorhersagen hätte. Ich glaube, am Ende war es einfach mein Wunsch, endlich anzukommen. Eine größere Erleichterung konnte das Ankommen nicht sein. Wie schön ist es doch, endlich ein Ziel zu erreichen, das man sich vorgenommen hat.
Auch der nächste Tag erwies sich als sehr anstrengend, wenn auch technisch weniger anspruchsvoll. Wir wanderten entlang eines Flusses, der sich immer wieder in Wasserfällen ergoss, hinunter ins Tal und wieder zurück auf unseren eigentlichen Trail.
Jetzt, wo der Zeitdruck nicht mehr so groß ist, habe ich mir vorgenommen, die Tage etwas kürzer zu halten und mehr auf Erholung zu achten. Es macht einfach nicht mehr so viel Spaß und man kann die Landschaft, die sich einem hier bietet, nicht mehr so gut aufsaugen.
Christlicher Leadership Kurs
In der Hütte, in der wir übernachteten, hatte sich eine Gruppe von jungen Europäern und Amerikanern mit zwei Seminarleitern zusammengefunden. Es handelte sich um einen christlichen Leadership-Kurs, der sich über 40 Tage erstreckte und unter anderem Exkursionen in die Berge beinhaltete, wo sich die Gruppe zur Klausur traf. Was genau christlich an dem Kurs sein sollte, habe ich nur so weit verstanden, dass die vermittelten Inhalte auf der Bibel basieren. Was genau der Unterschied zu einer normalen Leadership ist, konnte mir niemand so richtig erklären. Ich vermute, ich bin nicht gläubig genug, um hinter das geheimnisvolle Wirken des Herrn zu kommen. Zumindest haben sie alle viel in ihren Bibeln geblättert, in Abwesenheit ihrer Handys, die ihnen für diese Zeit abgenommen wurden.
Nach einem ausgiebigen Frühstück, das wie immer aus Müsli mit Chiasamen und Nüssen sowie Trockenfrüchten bestand, machten Connor und ich uns auf den Weg, um den Trevor Sattle zu erklimmen, eine der beiden Überquerungen der ansonsten recht flachen Etappe. Kurz vor dem letzten steilen Anstieg machten wir an einer Hütte Rast. Schon von weitem hörten wir die Rufe der Keas, Gebirgspapageien, die man nur selten zu Gesicht bekommt. Von der Terrasse der Hütte aus brauchten wir eine Weile, um sie zu entdecken, aber dann flogen sie nur wenige Meter von uns entfernt an uns vorbei. Connor hat sich hinter der Hütte auf die Lauer gelegt, um ein paar Schnappschüsse von unseren Kollegen zu machen – mit Erfolg. Er ist viel begeisterter, wenn es darum geht, alle möglichen Tiere und Pflanzen zu fotografieren. Eigentlich wollte ich mich hier mehr mit der Natur beschäftigen, aber so begeistert wie er bin ich nicht.
Travers Pass
Wer auf einen Berg steigt, muss auf der anderen Seite wieder runter. Da Connor oben etwas zurückgefallen war, machte ich mich alleine auf den Weg zur Blue Lake Hütte. Mehr als zwei Stunden ging es den steilen Hang hinunter, durch den Wald, entlang eines immer weiter anschwellenden Flusses. Wie Flüsse es schaffen, in kürzester Zeit zu einem reißenden Strom anzuschwellen, begeistert mich immer wieder. Natürlich sehe ich immer wieder kleine Bäche in ihn hineinfließen, aber das scheint mir irgendwie nicht die Masse des Wassers zu begründen, die tausenden von Litern, die jede Sekunde an mir vorbeifließen. Da muss Magie am Werk sein.
Am Blue Lake angekommen, sitzt schon eine große Meute weitgehend unbekannter Gesichter am Tisch. Das einzige Gesicht, das wir kennen, ist Noor, die mich schon seit mindestens zwei Monaten immer wieder begleitet. Sie ist eine quirlige Holländerin, die immer ein Lächeln auf den Lippen hat.
In jeder Hütte befindet sich ein sogenanntes Intension Book, in das man eintragen kann, ob und wie lange man sich in der Hütte aufgehalten hat und wo das nächste Ziel ist. Im Notfall kann so schneller festgestellt werden, wo man sich befindet. Im Kommentarfeld eines Buches hat Noor geschrieben, dass sie ihre Motivation nicht finden kann. Als wir sie in der Hütte trafen, überraschten wir sie mit einem Schild, auf dem „Noors Motivation“ stand. Sie hat sich sehr gefreut, dass wir an sie gedacht haben. Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die es so lebenswert machen.
In der App, die die meisten TA-Wanderer hier benutzen, kann man Kommentare hinterlassen. Giancarlo, ein Freund, den ich am Anfang der Nordinsel traf und mit dem ich direkt klickte, hinterließ einen Kommentar zu einer Hütte in den Tararuas, der folgendermaßen lautete: “Be aware of a German man called Jens in this area. He is tall and muscular and LOVES to talk about eugenics”, woraufhin ich mehrmals gefragt wurde, was das zu bedeuten habe. Ein spezieller Humor, der mich immer wieder zum Schmunzeln bringt. Schade, dass ich nicht mehr Zeit mit Giancarlo verbringen konnte.
Waiau Pass
Der Höhepunkt dieser Etappe ist der Waiau-Pass. Seit einiger Zeit wache ich morgens nach vielen Stunden Schlaf in meinem Zelt auf. Ich habe sozusagen verschlafen, wenn man so will. Einen Wecker hatte ich mir natürlich nicht gestellt. Von der Müdigkeit befreit, aber noch etwas wackelig auf den Beinen von den Strapazen des Vortages, öffne ich den Reißverschluss meines treuen Zeltes und bewege mich nach draußen, erst einen Fuß, dann den anderen und schließlich bringe ich den Rest meines Körpers in eine aufrechte Position. Ohne zu wissen, wie spät es ist, trifft mich das Erstaunen. Bis auf ein Zelt sind alle verschwunden. Ein Blick in die Hütte nebenan offenbarte mir eine Wüste aus verlassenen Betten. Zwei Neuseeländer packten gerade ihre Sachen. Sie verrieten mir, dass alle schon über eine halbe Stunde weg waren. Ohne Eile bereite ich mir ein reichhaltiges Frühstück zu, wohl wissend, dass mich der Hunger in den nächsten drei Stunden einholen wird, egal wie reichhaltig. Die noch nasse Kleidung fühlte sich zunächst etwas seltsam an, aber der steile Aufstieg vom Blue Lake hinauf zum Lake Constance half mir, sie zu schnell zu trocknen und gleich wieder zu befeuchten. Diesmal von innen.
Lake Constance wurde vor ca. 12000 Jahren, während der letzten Eiszeit, durch einen Erdrutsch geformt, den man heute noch deutlich erkennen kann. Das Wasser bahnt sich seinen Weg durch das feine Gestein vom Obersee zum Untersee. Dafür braucht es zwei Jahre und wird zum klarsten Wasser, das man auf der Erde finden kann. Die Sichtweite liegt nur drei Meter unter der theoretisch möglichen Sichtweite von 83 Metern in chemisch reinem Wasser.
Obwohl ich eineinhalb Stunden später losgegangen bin, treffe ich nach dem steinigen Aufstieg auf die Waiau Sattle schon die ersten anderen Wanderer. Zwei ältere Damen versuchen gerade, mit dem spärlichen Empfang, den die Höhe ihnen bietet, jemandem zum Geburtstag zu gratulieren. Ich nutze den Empfang, um es ihnen gleich zu tun, einen Gruß zu senden und meinem Zahnarzt ein paar Bilder und Fragen zu meinem herausgefallenen Implantat zu schicken. Er meint nur, dass es wohl das Einfachste wäre, das Loch zuwachsen zu lassen und zu warten, bis ich wieder in Deutschland bin. Dann würde er sich selbst darum kümmern. Ich bin damit einverstanden, da mich das Loch nicht wirklich stört und man es auch nicht mehr sieht.
Der Abstieg vom Pass war für mich der Höhepunkt des Tages. Schon von weitem konnte ich sehen, dass die anderen vor mir Mühe hatten, die steilen Felsen hinunterzuklettern. Um wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, mussten an manchen Stellen mehrere Meter senkrecht überwunden werden. Ohne Furcht arbeitete ich mich von Stufe zu Stufe vor und sprang wie eine Bergziege mit den Stöcken voran. Ich hätte gerne viel mehr von dieser Art des Abstiegs gehabt, bei der ich immer wieder die nächste Stufe anvisiert und mich dann darauf gestürzt habe. Manchmal fällt es mir schwer, in Worte zu fassen, wie sich etwas im Moment genau anfühlt. Das Adrenalin, das in mir hochkocht, und die hohe Konzentration, in die ich falle, muss man einfach selbst erlebt haben.
Die nächsten zwei Tage waren, was die eigentliche Wanderung betraf, eher unspektakulär. Eine einfache Strecke entlang eines Flusses und über Steppe im Tal zwischen massiven Bergen. Die Strecke gab mir Zeit, ein paar leichte Kilometer zu machen und meine Knie etwas zu schonen. Trotzdem war ich von der Umgebung beeindruckt. Auch im Flachland zeigt sich Neuseeland von seiner schönsten Seite. Nicht mehr so sehr auf die Strecke achten zu müssen, gibt mir auch wieder etwas mehr Raum zum Nachdenken.
Weitere Plänen
Der größte Teil meiner Reise in Neuseeland liegt schon hinter mir und so langsam kommen die Gedanken auf, was danach kommt. Ich weiß, wo meine Reise rein physisch hingehen soll, aber was danach kommt, weiß ich noch nicht so genau. Mittlerweile haben wir zwei Drittel der Strecke hinter uns, über 2000 km. Die Tage werden langsam gezählt. Ich kann mir jetzt schon kaum vorstellen, wie es sein wird, wenn ich nicht mehr durchschnittlich 25 Kilometer am Tag auf die Sohle bringe.
Werde ich etwas mit mir anfangen können? Mein Plan ist jetzt, nach Australien zu fliegen und dort ein paar Wochen zu verbringen. Den Flug nach Sydney habe ich eigentlich nur, weil mein Visum bei der Einreise auch einen Ausreiseflug verlangt hat. Wenn ich schon mal da bin, kann ich mir das Land auch ein bisschen anschauen. So schnell werde ich wohl nicht wiederkommen. Aber mein großer Plan nach meiner Wanderung ist es, nach Südamerika zu gehen und ein paar Kulturen kennenzulernen, die mir noch fremd sind.
Was ich dort genau machen werde, ist noch völlig offen. Fest steht für mich bisher nur, dass ich es langsam angehen möchte. Ich möchte Slow Tourism machen. Ich möchte in die Kultur der Einheimischen eintauchen, anstatt von Attraktion zu Attraktion zu hetzen. Ich möchte mich für ein paar Wochen irgendwo einquartieren, um mich mit mir selbst zu beschäftigen. Ich würde gerne ein Zimmer mieten, einen Tanzkurs belegen und ein bisschen mehr schreiben. Es macht mir sehr viel Spaß, das, was ich auf meiner Reise erlebe, zu dokumentieren. Ich würde gerne erforschen und lernen, für andere zu schreiben, nicht nur für Leute, die ich kenne. Ich möchte herausfinden, ob ich mit dem, was ich zu Papier bringe, einen Mehrwert schaffen kann.
Schuh gehabt
Mit Freude kann ich berichten, dass meine geschundenen Schuhe ca. 1600 km mit mir ausgehalten haben. Die provisorische Sohle hat die Lebensdauer meiner Schuhe um 400 km verlängert. Aber ich bin froh, jetzt meine neuen Schuhe an den Füßen zu haben und nicht mehr zittern zu müssen, ob ich die nächsten Kilometer noch mit mehr als einem Faden am Fuß überstehe.
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