Australien – The Great Northern Walk
Der Great North Walk ist ein Wanderweg, der sich über 250 Kilometer von Sydney nach Newcastle erstreckt. Ich hatte mir nur den Teil vorgenommen, der durch die Wälder zwischen den beiden Städten führt. Ich hatte keine Lust auf Vorstadtgeplänkel. Straßenwandern hatte ich mir in Neuseeland abgewöhnt.
Zurück aus den Blue Mountains traf ich Josie am Bahnhof in Sydney. Gemeinsam fuhren wir zu unserem Freund Angus, um bei ihm ein paar Sachen zu deponieren, die ich in den nächsten Wochen nicht brauchen würde.
Da der Trail mitten durch die Stadt führt, war der erste Abschnitt im Wald problemlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Ich bin immer wieder begeistert, wie schnell man von Sydney, der größten Stadt Australiens, mitten in der Wildnis sein kann. Eben noch im Einkaufszentrum letzte Besorgungen gemacht und schon steht man im Dschungel und hat das Gefühl, tagelang von der Zivilisation entfernt zu sein.
Schutz vor dem Regen
Der Regen kam schneller und mit größerer Wucht, als ich erwartet hatte. Vom Wetterbericht wusste ich, dass er kommen würde, aber nicht mit welcher Heftigkeit. Ich ließ mich in einem Imbiss an der Autobahnauffahrt nieder, um einen Kaffee zu trinken. Das Wetter hatte mir bis dahin nur ein durchgeschwitztes Hemd beschert. Jeder Schritt drückte mehr und mehr salzige Sole durch meine Poren, bis das ganze Gewebe durchtränkt war.
Ich stellte mich direkt vor den Ventilator, der mir mit seinem Surren ein wenig Linderung versprach. Mein Buch, Das Labyrinth des Lichts, hatte gerade noch so viele Seiten, dass es als gemütliches Beiwerk zu meinem zugegebenermaßen ziemlich schlechten Kaffee diente. Nur zehn Seiten vor dem eigentlichen Ende gesellt sich ein älterer Herr von knapp neunzig Jahren zu mir. Er tischt mir einige Geschichten aus seinem Leben auf, ohne auch nur einmal nach meinem zu fragen. Ungefragte Monologe lösen bei mir normalerweise Unbehagen aus. Der Mann schien nicht oft die Gelegenheit zu haben, sich mit jemandem zu unterhalten oder mit dem zu prahlen, was er und sein Sohn in ihrem Leben schon alles erlebt haben.
Ich ließ ihn gewähren, bis mir der Donner in die Knochen fuhr. Ein Signal, schnell zusammen zu packen und nach einer Bleibe für die Nacht Ausschau zu halten. Mein Plan war, wieder in den Busch zu flüchten, um dort in der Wildnis mein Lager aufzuschlagen. Ein offizieller Platz wäre 10 Kilometer nördlich gewesen. Auf dem Weg dorthin lag eine alte Aborigine-Gedenkstätte, von der ich hoffte, dass es sich um einen überhängenden Felsen handelte, unter dem ich mein Lager aufschlagen könnte, falls es früher regnen sollte.
Von neuem Schweiß durchtränkt fuhr ich an der Gedenkstätte vorbei. Die Schwüle hat einen Schleier über meine Fensterscheiben gelegt. Inzwischen hat ein leichter Regen eingesetzt, der durch den mit saftigen Farnen bewachsenen Dschungel kaum wahrnehmbar ist. Als ich aus dem Dickicht herauskam, riss der Himmel auf und befreite mich von meinem durchgeschwitzten Hemd, indem er mich von unten bis oben mit Süßwasser abspülte. Angenehm, so ein Sommerregen.
Da ich nicht wusste, wie lange und wie oft es an diesem Tag noch so weitergehen würde, suchte ich nach einem Unterschlupf, wo ich mein Zelt im Trockenen aufstellen konnte. Mir fiel ein Pavillon auf, der mir als perfektes Dach gedient hätte. Mike, einer der Mieter, gab mir die inoffizielle Erlaubnis, mich im angrenzenden Lagerraum auszubreiten und die Nacht ohne Regen zu verbringen. Einige weitere Regenschauer haben mich für diese Geste sehr dankbar werden lassen.
Blutsauger, wie eglig!
Ich weiß nicht, ob wir sie in Deutschland haben, aber wenn, dann bestimmt nicht so zahlreich, wie man sie hier antrifft, oder sollte ich sagen: wimmelt. Die kleinen Würmer saugen sich an der Haut fest und füllen ihren schmalen, röhrenförmigen Körper auf, bis sie fingerdick sind. Dann fallen sie ab. Der Blutverdünner lässt mich aussaften. Mike hat mir gezeigt, dass sie Salz nicht vertragen und sich schon nach wenigen Körnern zurückziehen und meistens sterben. An diesem Tag hatte ich bestimmt zwanzig an den Füßen, nicht gefährlich, aber lästig. Wie mir Mike erzählt hat, bin ich hier in eine Gegend geraten, in der die Blutegel wie eine Plage durch die Gegend wimmeln.
Um der Plage am nächsten Tag zu entgehen, beschloss ich, meine lange Abendhose anzuziehen und sie mit Schnüren um den Stiefelschaft zu binden. Wie sich herausstellte, war das eine sehr gute Strategie. Meine anfängliche Paranoia ließ mich alle paar hundert Meter anhalten, um den Zustand meiner Beine zu überprüfen. Keiner der kleinen Würmer hat es unter meine Hose geschafft, aber unter meine Haut. Vorsichtshalber habe ich noch etwas Insektenspray auf die Hosenbeine gesprüht. Nach einer Weile und dem zehnten Stopp bemerke ich, dass die Blutsauger Schwierigkeiten haben, meine Hosenbeine hochzuklettern. Anscheinend können sie sich nicht so gut im Stoff festbeißen wie in meiner Haut. Beim Gehen werden sie nach einer Weile einfach abgeschüttelt. Im Stehen kommen die kleinen Blutegel mindestens bis zu den Knien.
Fluchtplan
Ich hatte wieder einen Anfall von Lustlosigkeit. Ich scheine mich nicht mehr so zum Wandern motivieren zu können, wie ich es noch auf dem TA konnte. Das Klima hier ist viel feuchter und schwüler, was mich den ganzen Tag wie eine Sau, die zu einem Spanferkel verarbeitet wird, saften lässt. Meine Motivation scheint an konkrete Ziele gebunden zu sein. Hier ist mein einziges Ziel, mich von der Zivilisation fernzuhalten. Bei einem Mittagskaffee an einer Tankstelle beginne ich, mich nach einer günstigen Unterkunft umzusehen und die Wanderung abzubrechen. Leider ist hier in der Nähe nichts auch nur annähernd bezahlbar. So geht es nun mit weniger Motivation weiter in den Kampf gegen die Armee der Würmer. Am Tagesziel angekommen, treffe ich einen weiteren Wanderer, der sich gestern hier auf dem Zeltplatz mit dem kleinen überdachten Bereich verschanzt hat. Was mir auffällt: Die Blutsauger halten sich eher weiter unten im Wald auf, wo es viel tropischer und feuchter ist, als in der Höhe, wo der Eukalyptus wächst.
Leid
Ich weiß wirklich nicht mehr, warum ich den Great North Walk immer noch mache. Ich quäle mich von Kilometer zu Kilometer, ohne wirkliche Motivation. Eine Weile macht es noch Spaß, solange alles glatt läuft und ich Ablenkung im Ohr habe.
Die Natur nervt mich immer mehr. Es sind nicht die gefährlichen Tiere, für die Australien so bekannt ist, die mir hier das Leben schwer machen. Es sind das schwüle Wetter und die kleinen Nervensägen, die mir den Aufenthalt hier im Wald so unangenehm machen. Ich schaffe nicht einmal mehr die 20 Kilometer, die ich mir bis zum nächsten “Campingplatz” vorgenommen habe. Ständig kontrolliere ich, ob sich nicht wieder ein Blutegel an mich geheftet hat. Zwei haben es tatsächlich hoch bis zu meinen Bauch geschafft und sich mit meinem leckeren Blut vollgesogen. Es bleibt mir verwehrt, mich einfach mal in Ruhe auf den Boden zu setzen, entweder wird man angekrabbelt oder es fängt an zu regnen, während ich mir gerade mein Mittagsbrot schmiere. Der Ärger überwiegt. Wie schon so oft zuvor habe ich versucht, eine bezahlbare Unterkunft zu finden, mit der Aussicht, einfach in die Zivilisation zu flüchten. Irgendwann war es genug, die nassen Füße scheuerten und schmerzten. Sie zwangen mich, bei der nächsten Gelegenheit mein Zelt aufzuschlagen. Dabei hat sich eine weitere Plage auf meinen bis zum Äußersten gereizten Körper eingeschlichen. Riesige Ameisen, die nichts Besseres zu tun hatten, als mich in meine geschundenen Füße zu beißen. Scheiße, tut das weh, körperlich und seelisch. Ich bin froh, endlich die Natur durch mein Zelt aussperren zu können. Es war nur eine dünne Schicht zwischen ihr und mir, aber eine wirksame. Schlangen wären mir lieber gewesen. Wenigstens kann man ihnen aus dem Weg gehen.
Die Entscheidung ist gefallen. Am nächsten Morgen schleppe ich mich mit der verbliebenen Kraft über einen Feldweg, bis ich Leute finde. Weitere 15 km Fluchtstrecke müssen es gewesen sein. Endlich geschafft. Menschen in Sicht. Ich bin gerettet. Ich werde zum Bahnhof gebracht. Ein Bett ist mir sicher. Der Waldschrat kommt wie einst die Tarzen in die große Stadt.
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