Brasilien – Rio de Janeiro – Ilha Grande
Ich hatte wieder meinen Jetlag-Trick angewandt, um nicht völlig zerstört in Rio anzukommen. Auf dem Flug von Sydney über LA und Miami habe ich mir nur Schlaf gegönnt, wenn es auch in Rio Nacht war. In der restlichen Zeit habe ich mich mit Büchern, Spielen und Filmen wach gehalten. Der Plan hat einigermaßen funktioniert. Schlafmangel und Zeitverschiebung erzeugen eine seltsame surreale Wahrnehmung.
In den ersten zwei Tagen ist mein Gehirn für eine Weile meinem Körper hinterhergelaufen, als würde ich neben mir stehen und vom Beifahrersitz aus beobachten, was um mich herum passiert.
Die Stadt ist heiß, sie glüht. Ich akklimatisiere mich in der Wohnung meines Mannheimer Freundes Stephen. Ich habe keinen Druck, mir die Stadt anzuschauen. Ich übernehme sofort den Tagesrhythmus von Stephen und Justin, seinem Mitbewohner. Jeder Morgen wird mit Meditation und Yoga begonnen. Überhaupt wird viel Sport getrieben und gesund gegessen. Irgendwie bin ich hier in einen Lebensstil hineingeschlittert, der meinem entspricht. Man hetzt nicht, die Zeit vergeht, ohne dass man ihr viel Aufmerksamkeit schenkt. Die Uhren ticken hier anders als in der westlichen Welt. Nur weil es einen Fahrplan gibt, heißt das noch lange nicht, dass er auch eingehalten wird. Wir sitzen im Uber. Wir stehen im Stau. Laut Fahrplan schon zu spät, keinen juckt’s. Der Bus auch zu spät.
Ilha Grande (große Insel)
Ilha Grande, ein kleines Paradies südlich von Rio. Aventureiro, der Strand, an dem wir mit einem kleinen Taxiboot landen, scheint nur für wenige reserviert zu sein. Keine Fähre, die Massen anspült. Der einzige andere Weg hierher führt zu Fuß über den Landweg, ein achtstündiger Marsch von Abraão, einer quirligen Stadt auf der anderen Seite der Insel.
Im Paradies gibt es kein schlechtes Wetter, nur die falsche Einstellung. Es gibt verschiedene Abstufungen der Sonne, die zu uns durchdringt. Die regenfreien Zeiten nutzt man, um den Strand zu erkunden. Wer ins Meer geht, wird nass. Der Regen macht die Nässe nur süßer. Wenn wir nicht nass werden wollten, gab es Rückzugsorte, um Karten zu spielen und in sich zu gehen. In vielen Fällen hängt das Erlebnis stark von den Erwartungen ab. Ohne Erwartungen bleibt Raum für die Neuinterpretation von Eindrücken. Wir definieren das Erleben unserer Umgebung neu. Alles wird genau betrachtet und aufgenommen. Im Allgemeinen fühle ich mich in der Natur zu Hause. Ich kann sie stundenlang in all ihren Facetten in mich aufnehmen. Wenn man sich darauf einlässt, kann man in allem, was einen umgibt, viele kleine Details entdecken, die einem sonst eher entgehen. Wie bunt und detailreich die Welt doch sein kann.
Abwanderung
Stephen und ich beschließen, nicht mit Justin nach Rio zurückzukehren. Wir versuchen, die Insel zu Fuß zu umrunden, um zur Fähre nach Abraão zu gelangen. Der Weg führt von Strand zu Strand. Jeder für sich eine kleine Ortschaft, eine in sich abgeschiedene Welt. Ein anderer Wanderer schließt sich an. Der Argentinier ist mit seinem Zelt unterwegs. Ich fühle mich mit ihm durch meine nicht allzu weit entfernte Existenz verbunden. Der Regen, der uns so wenig ausmacht, hat für ihn, der im Zelt übernachtet, eine ganz andere Qualität.
Am späten Nachmittag werden unsere Füße in der untergehenden Sonne langsam schwer. Da keine Unterkunft in Sicht ist, diskutieren wir über Alternativen. Plötzlich erblicken wir ein paar Damen, die gerade ein Boot besteigen. Sie haben den Tag mit ein paar Bierchen am Strand verbracht. Unwillig weiter zu gehen, hat Stephen eine spontane Idee. “Wo wollt ihr denn hin?”, fragt er. “Nach Abraão!” kommt es zurück. “Können wir mitkommen?” “Klar.” Der Kapitän wittert noch einen schnellen Dollar. Wir willigen ein. Es ist das zweite Mal, dass ich mit Stephen unterwegs bin und wir spontan vor dem Ziel abbrechen. Das letzte Mal sind wir in Israel an einer Brauerei hängengeblieben.
Abraão
In Abraão erwartete uns das Leben. Das Touristenstädtchen bietet uns schnell eine günstige Unterkunft und eine große Auswahl an Restaurants. Wir hören viel Spanisch und Französisch auf der Kopfsteinpflasterstraße. Es gibt einen Teller Nudeln für 5 Euro und zum Nachtisch einen Crêpe, der so lange auf sich warten lässt, dass er sich kaum erinnern kann, wann er das letzte Mal warm war. Man kann es mit der Gemütlichkeit auch übertreiben.
Die Papiere für den nächsten Tag liegen schon bereit. Wir lassen uns an einen paradiesischen Strand fahren, der mir im Laufe des Tages immer breiter und länger erscheint.
Wir sind offensichtlich in Brasilien. Alle sind Amateure an der Kamera. Alle sind hier, um zu schießen. Wir passen uns an. Abseits der Masse reißen uns die Badehosen von den Beinen. Gleichmäßige Bräune von Kopf bis Fuß.
Auf die Frage, ob sie ein Fotoshooting machen, lacht die Dame nur empört. Wenn nicht, wozu dann das Stativ? Ich vermute, es gibt eine Grenze, was als Shooting gilt.
Eine schlanke Frau kommt weiter entfernt aus dem Wasser. Sie breitet sich demonstrativ vor uns aus. Sie scheint sich ein wenig zu trappieren. Sollen wir sie ansprechen? Ich zögere. Stephen fordert mich heraus. Ich überwinde mich.
Wir unterhalten uns. Sie ist Armenierin. Sie verhält sich etwas merkwürdig. Vielleicht ist es kulturell ungewohnt, einfach so mit einem fremden Mann zu sprechen. Vielleicht bin ich aber auch nur in einer anderen Welt, auf einer anderen Wellenlänge. Sie muss gehen.
Wir erkunden ein wenig die Felsen. Die Wellen sind brutal. Das Auf und Ab, das Füllen der Risse. Ich mag es, wie sie sich an den Felsen reiben. Man hat das Gefühl, sie spülen die Welt davon. Irgendwann werden sie es schaffen. Bis dahin sind sie einfach schön, eine Analogie, ein Wechsel.
Der Dschungel säumt den Sand, der sich wie eine Sichel um die Bucht windet. Der Wald steigt in Schichten den Berg hinauf. Die aufziehenden Wolken lassen den Gipfel wie einen Vulkan erscheinen. Der zornige Koloss spuckt und raucht.
Ohne Zeitgefühl begeben wir uns auf den Rückweg durch den Dschungel. Kleine Affen schaukeln über unseren Köpfen. Der eine oder andere bleibt stehen, um die anderen seltsamen Primaten zu beobachten. Wir beobachten uns gegenseitig.
Wir begegnen der Armenierin wieder. Sie ist verändert. Von der Strandnixe zum Strandkönigin. Elegant mit Cocktail. Stephen bestätigt ihr seltsames Verhalten. Sie will feiern, sich betrinken. Wir wollen unsere Ruhe.
Unser Boot schaukelt gemächlich auf den Wellen. Die raue Fahrt wird mit Bob Marley serviert. Der Kapitän ist die Ruhe selbst. Es scheint ihm im Blut zu liegen, in welche Richtung die Wellen seinen Kutter als nächstes treiben werden. Er lässt ihn in sie hineindriften. Ich feiere, ich genieße.
Den Moment vor dem Ziel auskosten
Ich habe für mich eine wichtige Erkenntnis gewonnen. Große Erfolge nicht feiern zu können, ist an sich unsinnig. Was mir bewusst wurde, ist die Irrelevanz dieses Gefühls. Den Weg zum Ziel habe ich bereits hinter mir gelassen. Der Weg ist der Grund, warum ich mich überhaupt auf diese Reise begeben habe. Die Momente, die den Weg ausmachen, habe ich bereits in vollen Zügen genossen. Es gibt also keinen Grund, diese Befriedigung zu forcieren, wenn ich die vielen Momente, die mich dorthin geführt haben, bereits genossen habe.
Das Ziel ist der Augenblick, in dem ich mir neue Ziele setze, die ich mit schönen Momenten füllen kann.
Verkopft nochmal
Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Alice, eine alte Freundin aus Mannheim, mich darauf hinwies, dass ich doch nicht ständig nach allem nachschauen solle, was ich nicht wisse oder nicht verstehe. Damals habe ich diesen Einwand als Desinteresse oder gar Entwicklungsunwilligkeit belächelt. Heute, 15 Jahre später, glaube ich zu verstehen, was damit gemeint sein könnte. Es lenkt von dem Moment ab, den man zusammen oder auch allein verbringt.
Vielmehr sehe ich jetzt sehr deutlich, dass mich meine rationale Durchdringung in bestimmten Lebens
Situationen nicht weiterbringt und sogar hinderlich ist, weil es nichts rational zu durchdringen gibt. Ich meditiere, um fokussierter und mehr bei mir zu sein, um mich nicht mit meinem Denken zu identifizieren und so dem Ego etwas weniger Nahrung zu geben.
Was passiert nun, wenn ich zu verstehen versuche, warum mein liebes Köpfchen ständig Gedanken produziert und auf mich loslässt. Und genau da tappe ich in die Falle, mich mit diesen Gedanken zu identifizieren und sogar neue zu generieren, anstatt mich einfach mit ihrer Existenz anzufreunden und sie loszulassen, ohne ihnen mehr Raum zu geben, als sie in Wirklichkeit beanspruchen, nämlich so viel, wie ich ihnen zugestehe. Ich erlaube mir, sie mehr und mehr offen zu lassen.
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