Dermaßen (a)sozial
Ich weiß nicht, ob das schon immer so war oder ob es mir nur bewusster geworden ist: Ich brauche einen Rückzugsraum, Zeit für mich allein.
Das ist mir zum ersten Mal so richtig bewusst geworden, als ich mit Adriana zusammengezogen bin. Da hatte ich keinen richtigen Rückzugsort mehr. Ich wusste nicht genau, wie ich kommunizieren sollte, dass ich auch mal allein sein muss, ohne den Eindruck zu erwecken, dass ich meinen Partner ablehne. In dieses Fettnäpfchen bin ich schon vor Jahren getreten, als ich Stephanie am Ende unseres Urlaubs sagte, dass ich mich darauf freue, wieder Zeit für mich zu haben. Aus meiner Sicht hatte das nichts mit ihr zu tun, aber sie schien es anders zu verstehen, wie ihre Reaktion zeigte.
Ich brauche diese Zeit, um meine sozialen Batterien wieder aufzuladen – eine Eigenschaft, die ich vor ein paar Jahren noch nicht kannte, die es mir jetzt aber ermöglicht, besser zu verstehen, was mein Geist braucht, um sozial sein zu können.
Extrovertiert zu sein hat für mich immer bedeutet, dass ich gerne und leicht mit anderen Menschen umgehe – eine Eigenschaft, auf die ich stolz bin. Ich bin nicht schüchtern. Vor einigen Jahren habe ich in einem Video zum ersten Mal von der Definition der „sozialen Batterie“ gehört. Demnach entlädt sich die Batterie bei introvertierten Menschen durch soziale Interaktionen, während es bei extrovertierten Menschen genau umgekehrt ist.
Ja, ich bin ein sehr sozialer Mensch. Ich liebe es, mit anderen Menschen zusammen zu sein und neue Menschen sowie deren Erfahrungen kennenzulernen. Dennoch habe ich auch eine „asoziale“ Seite, bei der jegliche Interaktion mit Menschen Energie kostet. Extrovertierte Menschen, die sich in sozialen Umfeldern aufladen wie jemand, der vom Blitz getroffen wird, können sich oft nicht in unsere introvertierten Schuhe versetzen. In der Vergangenheit wurde ich dafür manchmal verspottet, dass ich schon wieder müde sei. Dabei habe ich mein Bestes gegeben. Alkohol half mir oft dabei, den introvertierten Teil in mir vorübergehend zu beruhigen – zumindest für den Abend. Die Kosten dafür zahlte ich später mit noch mehr Müdigkeit.
Wenn ich an die letzten 20 Jahre denke und die ständige Müdigkeit, die mich begleitete, wird mir jetzt einiges klarer. Schon in der Schule und während der Ausbildung kämpfte ich immer mit Müdigkeit. Ich ließ mich sogar ärztlich untersuchen, weil ich dachte, dass irgendetwas nicht mit mir stimmt. Ohne Ergebnis. Die Ärzte meinten, ich hätte eine falsche Vorstellung davon, wie wach ich sein müsste. Jetzt weiß ich, dass sie einen zentralen Aspekt ausgelassen haben, der mich ständig Energie kostet.
Unsere Gesellschaft lebt von sozialen Interaktionen. Wir werden unser ganzes Leben dazu gezwungen, an der Gesellschaft teilzunehmen. In der Schule sitzen wir stundenlang mit 30 Mitschülern zusammen. An der Universität oder während der Ausbildung ist die Anwesenheit Pflicht. Selbst bei der Arbeit lässt es sich in vielen Fällen nur schwer vermeiden, den Tag unter Menschen zu verbringen. All das raubt Energie, die uns Introvertierten dann in der Freizeit fehlt. Wenn man dann noch Hobbies hat, die einen unter Menschen bringen, bleibt nicht mehr viel Zeit für sich selbst.
Auf meiner Reise fällt es mir schwer, Raum für mich selbst zu schaffen. In Hostels wimmelt es nur so von Menschen, die mit mir sprechen wollen. Gerade hier in Südamerika hat der persönliche Raum eine ganz andere Definition – wenn überhaupt – als bei uns. Hier wird überall laute Musik gespielt, und scheinbar hat niemand Kopfhörer, was aber niemanden zu stören scheint, seinen Kram einfach mit voller Lautstärke für alle abzuspielen.
Das Verständnis dafür, wie mein Geist funktioniert, hilft mir, mich an die Umstände anzupassen und mich zurückzuziehen, wenn ich mein Limit erreicht habe – oder besser noch, bevor ich wieder an die Steckdose muss. Ich reagiere mehr auf meine Gefühle und mein Wohlbefinden. Für mich bedeutet das, manchmal gezielt Menschen aus dem Weg zu gehen, um später wieder sozial sein zu können.
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