Slowenischer Hochalpinweg Tag 5 bis 7
Zwischen Bergwiesen, Wäldern und Begegnungen
Die Tage verschwimmen langsam in einen Rhythmus aus Gehen, Schauen, Staunen – und doch bringt jeder Abschnitt des Hochalpinwegs neue Überraschungen. Mal führt der Weg über schroffe Steinplatten, die unter den Schuhen hart und kantig wirken, dann wieder über federnden Waldboden, der mit dem Duft von Nadelholz und feuchtem Moos die Sinne füllt. Zwischen stillen Waldstücken und weiten Ausblicken wechseln sich Ruhe und Abwechslung fast im Minutentakt ab.
Auf diesen Etappen liegen nicht nur Höhenmeter und Landschaften zwischen den Hütten, sondern auch Begegnungen, die den Weg lebendig machen: Ein Wirtshausgespräch, das den Plan für den Tag ändert. Ein spontaner Plausch mit einem Mountainbikestrecken-Bauer als Mitfahrgelegenheit. Und eine kleine internationale Wandergruppe, die den Hochalpinweg Jahr für Jahr in Etappen erobert – wie ein wiederkehrendes Ritual. So werden die Tage nicht nur zu Kilometern in den Beinen, sondern zu kleinen Geschichten, die sich am Ende wie Perlen auf eine Schnur fädeln.
Tag 5 – Das erste Mal richtig hoch
Start: Dom na Smrekovcu
Ziel: Zavetišče na Korošici
Strecke: 37 km
Aufstieg: 2.850 hm
Abstieg: 2.500 hm
Der Tag begann früh – und ohne Frühstück. Ich wollte einfach nur los. Am Vorabend hatte mir die Wirtin in der Hütte geraten, nicht weiterzuziehen, da die nächste Unterkunft unter der Woche geschlossen sei. Also blieb ich dort und brach am Morgen von genau diesem Punkt aus auf. Ich hatte für diesen Tag zwei Optionen: eine gemütliche 20-Kilometer-Etappe, bei der ich schon um 12 Uhr an der Hütte gewesen wäre – oder die etwas ambitioniertere Variante.


An der ersten Hütte des Tages meldete sich dann der Hunger. Es war so kalt und windig, dass ich sogar meine Jacke anzog. Trotz wolkenlosem Himmel ließ die Sonne sich Zeit, mich mit ihrer Wärme zu verwöhnen.
Zur Mittagszeit erreichte ich bereits die Hütte der ersten Variante, die wie eine kleine Oase wirkte. Ich bestellte mir eine kräftige Gemüsesuppe und gefüllte Teigtaschen – und schlief danach 20 Minuten in der Sonne ein. Eigentlich hätte das ein schöner Tagesabschluss sein können. Aber da war noch Energie übrig – und der Tag fühlte sich einfach nicht fertig an. Was will ich vor Mittag schon in der Hütte, wenn ich auch auf 37 Kilometer und insgesamt auf 2800 Höhenmeter aufstocken kann?


Die Bedienung staunte nicht schlecht, als ich mein Tagesziel nannte. Laut Schild waren es noch über sieben Stunden bis dorthin. Ich war mir sicher, die Zeit zu unterbieten, also machte ich mir keine Sorgen – bis ich den nächsten steilen Hang sah. Zum Glück rief die Wirtin für mich bei der Zielhütte an, um ein Bett zu reservieren. Denn nach so einem Tag vor verschlossener Tür zu stehen, wäre wirklich das Letzte gewesen, was ich gebraucht hätte.
Was ich nicht bedacht hatte: Diese extra Höhenmeter waren fast komplett auf die letzten paar Kilometer gepackt. Und was ich bis dahin ebenfalls nicht wusste, war, wie ernst es Slowenen meinen, wenn sie ein kleines Warndreieck mit Ausrufezeichen an den Wanderweg setzen. Plötzlich ging es nahezu senkrecht bergauf, nur gesichert durch Stahlseile und Bolzen, die in den Fels geschlagen waren. Mehrmals fragte ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, ein Via-Ferrata-Set mitzunehmen, um mich ins Stahlseil einhängen zu können. Irgendwann hatte ich wirklich genug, doch die Aussicht wurde immer grandioser – der wohlverdiente Lohn für die Anstrengung.


Der Aufstieg am Nachmittag hatte es in sich. Eigentlich habe ich keine Höhenangst, aber die schmalen Pfade und steilen Wände sorgen schon für ein leicht mulmiges Gefühl – vor allem mit einem rund 10 Kilo schweren Rucksack auf dem Rücken. Meine Wanderstöcke waren dabei Fluch und Segen zugleich: hilfreich zum Abstützen an der Felswand, aber hinderlich, wenn ich freie Hände brauchte. Mehrmals verstaute ich sie, nur um sie ein paar Minuten später wieder auszupacken.
In diesem Gelände fühlen sich manche Tiere wohler als die meisten Menschen. Bergziegen hüpften mühelos zwischen den Felsen herum, als gäbe es keinen tödlichen Abgrund bei einem Fehltritt. Mein eigener Tritt war zum Glück sicher, und die Stahlseile boten guten Halt – auch wenn sie manchmal etwas nervten.

Kurz vor dem Ziel traf ich die ersten beiden Wanderer, die ebenfalls den Slowenischen Höhenweg liefen – zwei Amerikanerinnen, etwas gemütlicher unterwegs als ich und mit deutlich mehr Zeit. Den Abschnitt, den ich am Nachmittag noch schnell „drangehängt“ hatte, hatten sie auf den ganzen Tag verteilt.

Die Hütte am Ziel war eher provisorisch: notdürftig aus Schiffscontainern und Holzbrettern gezimmert, funktional, aber nachts bitterkalt. Die eigentliche Hütte war vor einigen Jahren abgebrannt, übrig waren nur einsame Steinmauern inmitten dieser rauen, aber atemberaubenden Bergkulisse.

Der Hüttenwirt begrüßte uns herzlich und servierte sofort kalte Getränke und Eintopf. Auswahl gab es nicht, Vegetarier bekamen Apfelstrudel. Generell ist es in Slowenien schwierig, sich unterwegs vegetarisch zu ernähren. Ich versuche es, wo es geht, aber auf Reisen nehme ich es eher pragmatisch, anstatt zu hungern.


Zuhause leben wir rein vegetarisch, und so kommt es mir immer wieder vor, als würde ich im Alltag in einer Blase leben, wenn ich sehe, wie viel Fleisch in vielen Regionen der Welt konsumiert wird. Selbst wenn man ein Gericht bestellt, dass auf den ersten Blick als vegetarisch verkauft wird, schaffen sie es doch immer wieder, Wurst oder Fleischstücke hineinzuschmuggeln.

Beim Abendessen rätselten wir noch, wie wohl die Vorräte hierher kommen. Ich tippte auf einen Hubschrauber, wie in den Pyrenäen. Umso überraschter waren wir am nächsten Morgen, als ein Mann mit Hund in der Tür stand – auf dem Rücken 42 Kilo Konserven und Bierdosen. Eineinhalb Stunden war er zu Fuß unterwegs gewesen, zwar auf einer anderen, weniger steilen Route als wir, doch für ihn war das schlicht „gutes Training“.

Wie sich herausstellte, arbeitete er auch bei der Bergrettung. Er warnte uns, insbesondere die beiden Amerikanerinnen, vor den Kletterpassagen in Slowenien: Die Sicherungspunkte seien oft weiter auseinander als anderswo, was bei einem Sturz schnell zu einem vier Meter langen Fall führen könne – plus Seildehnung. Dabei seien Rücken- oder Beinbrüche keine Seltenheit. Ein unschöner Gedanke, der mich die kommenden Tage begleiten sollte. Ob seine Warnung berechtigt war, würde ich bald genug herausfinden.
Tag 6 – Abenteuer Abkürzung
Start: Zavetišče na Korošici
Ziel: Cojzova koča na Kokrskem sedlu
Strecke: 23 km
Aufstieg: 2.000 hm
Abstieg: 1.650 hm
Der Tag begann harmlos: 20 Kilometer standen auf dem Plan. Nach der Tortur von gestern klang das fast wie Erholung. Ein Blick auf die Karte offenbarte sogar eine Abkürzung – nur 600 m statt 1.5 km. Ein Geschenk, dachte ich.


Doch schon am Einstieg hing ein Warnschild, das ich großzügig ignorierte. Ein Fehler, wie sich bald herausstellte. Die „Abkürzung“ verwandelte sich in einen senkrechten Aufstieg, der eher an einen Klettersteig ohne Klettersteigset erinnerte. 300 Höhenmeter auf gerade mal 600 Meter Strecke – das fühlte sich nicht wie Wandern, sondern wie Überlebenstraining an.


Schmale Felstritte, kaum breit genug für einen Fuß. Hier und da ein Sprung über kleine Abgründe. Metallstangen, die man umklammern musste, um nicht rückwärts ins Nichts zu kippen. Enge Felsspalten, durch die ich mich mit eingezogenem Kopf und eingeklemmtem Rucksack hindurchzwängte. Die Stöcke steckte ich weg, meine Hände wurden zu Kletterhaken.


Irgendjemand hatte hier hunderte Eisenbügel und Verankerungen in den Fels geschlagen. Ob das mit Handarbeit oder Maschinen geschah – es musste ein Mensch mit wenig Angst vor dem Tod gewesen sein. Ich spürte, wie mein Puls raste. Der Abgrund links, der Fels rechts, das Metallseil fest umklammert. Zurück? Keine Chance mehr.


Ich habe mich in meinem Leben schon oft in solche Situationen manövriert. Vielleicht sollte ich endlich einen Bergsteigerkurs machen – nicht um besser zu klettern, sondern um zu lernen, wann man umkehrt. Aber da war ich nun, mitten drin. Jeder Griff, jeder Tritt musste sitzen.
Als ich endlich wieder den offiziellen Weg erreichte, war keine Erleichterung spürbar. Stattdessen fragte ich mich, wie dieser Trail überhaupt als nationaler Weitwanderweg ausgewiesen werden konnte. Vielleicht sind Slowen*innen einfach aus härterem Holz geschnitzt als wir deutschen Wochenendwanderer.


Auf dem höchsten Punkt des Tages dann der nächste Schlag: Die Markierungen verschwanden. Wo die Karte einen Pfad versprach, gab es nur einen steilen Abhang oder ein loses Geröllfeld. Ich wählte das Geröll – und rutschte mehr, als dass ich ging. Jeder Blick aufs GPS zeigte: Ich bin nicht mehr auf dem Weg. Schritt für Schritt arbeitete ich mich voran, in der Hoffnung, irgendwo wieder ein rotes Zeichen zu entdecken. Es kam keines.
Der Durst wurde quälend. Seit Stunden kein Tropfen Wasser. Meinen Rucksack hatte ich absichtlich leichter gepackt – nur ein Liter für den Tag. In der letzten Hütte hatte ich Kaffee und Kuchen genommen, aber kein Wasser. Zu teuer, dachte ich damals. Jetzt war ich geizig – und durstig.


Eigentlich hätte ich noch zwei Gipfel erklimmen sollen, aber ich bog auf eine vermeintlich leichtere Querung ab. Ein fataler Irrtum. Der „leichte“ Weg entpuppte sich als stundenlange Kraxelei über scharfkantige Steine und wurzelige Anstiege.
Die letzte Hoffnung war eine offene Hütte. Die einzige Hütte, seit meinem Stück Kuchen, die offen war, und Treffpunkt mit zwei Amerikanern, die dieselbe Route gingen. Für mich war es schon ein Kampf bis hierher – und doch kamen sie nicht. Um 18 Uhr schleppte ich mich erschöpft in die Unterkunft. Als ich ins Bett fiel, waren sie immer noch nicht da.
Tag 7 – Riss
Start: Cojzova koča na Kokrskem sedlu
Ziel: Cojzova koča na Kokrskem sedlu
Strecke: 20 km
Aufstieg: 1.300 hm
Abstieg: 1.200 hm
Ich habe in der Nacht kaum geschlafen. Mich hatte etwas emotional mitgenommen, und so konnte ich nicht recht zur Ruhe kommen. Erst über den Tag konnte ich wieder einen klaren Gedanken fassen.


Mit dem Hüttenwirt hatte ich die Strecke für den Tag besprochen und mich für die „einfache“ Route entschieden – was in Slowenien leider nicht bedeutet, dass es nicht steil oder gefährlich wäre. Ich kam sogar an einen Punkt, an dem ich geflucht habe (was selten vorkommt) und schon Pläne schmiedete, in die Dolomiten nach Italien weiterzuziehen, um dort zu wandern. Der Aufstieg über den Pass führte mich durch ein Geröllfeld, das das Vorankommen sehr anstrengend machte. Auf der anderen Seite ging es weiter mit dem altbekannten Spiel aus steilen Abhängen, Stahlseilen und Kletterpassagen.
Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich das Gelände in den Bergen verändern kann. Gerade noch stapft man auf hartem Fels, und im nächsten Moment läuft man auf weichem Waldboden, der eine wahre Freude für die Gelenke ist. Es duftet nach Nadelwald, ein kleiner Bach plätschert neben mir und durchbricht die Stille des Waldes. Ich genieße den Schatten – die Sonne hat mir in den letzten Tagen genug auf den Pelz gebrannt.
Unten im Tal, in einem kleinen Ort angekommen, gönnte ich mir ein reichhaltiges Mittagessen: einen großen Salat, eine Grillplatte und einen Cappuccino. Danach ging ich noch kurz Proviant einkaufen: Snacks, Schokolade (sehr wichtig für die Moral), Hummus, Wraps und Käse. Da ich keine Lust hatte, an der Straße entlang zu laufen, entschied ich mich fürs Trampen. Es dauerte keine drei Minuten, bis ein junger Mann anhielt, der gerade von der Arbeit auf dem Heimweg war – zu meiner Überraschung sprach er Deutsch. Wir unterhielten uns darüber, dass er in der Nähe am Bau eines neuen Flowtrails für Mountainbikes mitarbeitet. Mit nur wenigen Spatenstichen entsteht dort ein kleines Paradies für Speedjunkies.


Der restliche Weg führte wieder durch vertraut wirkenden Wald, erst auf breiten Wegen, dann zunehmend auf schmalen Trails. Für eine Weile goss es wie aus Eimern – eine willkommene Abkühlung auf den steilen Pfaden.


Mein Ziel war eine Hütte, die von Leon, einem exzellenten Koch, und seiner Frau bewirtet wird. Zur Begrüßung gab es eine hervorragende Gemüsesuppe und den bisher besten Apfelkuchen der Tour. Obwohl es offiziell keine Dusche gab, durfte ich ausnahmsweise die private Dusche benutzen – ein Segen. Mein Longsleeve, das schon lange ein Loch hatte, zerfiel nun endgültig und wurde zu Grabe getragen: mehr Loch als Stoff. Den Rest meiner Wäsche wusch ich von Hand in heißem Wasser mit Seife – jetzt ist alles zumindest wieder halbwegs erträglich.

Außer mir war nur noch eine Gruppe Jungs aus Ungarn in der Hütte. Wir plauderten ein wenig über unsere Touren, teils auf Englisch, teils mit Händen und Füßen. Interessanterweise war einer der drei Finne. Ich fragte mich, warum sie sich auf Englisch unterhielten – schließlich gehören Finnisch und Ungarisch beide zu den uralischen Sprachen. Aber nur weil sie verwandt sind, heißt das nicht, dass man sich versteht: Über die Jahrhunderte sind die Ähnlichkeiten fast vollständig verloren gegangen.
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