Slowenischer Hochalpinweg Tag 8 bis 10
Diese drei Tage fühlten sich an wie ein komprimiertes Abbild der ganzen Reise: Momente der Leichtigkeit und des Staunens wechselten sich ab mit körperlicher Anstrengung, unberechenbarem Wetter und kleinen Überraschungen. Während ich an manchen Stellen fast zu fliegen schien, verlangten andere Passagen volle Konzentration und Geduld. Immer wieder öffneten sich neue Perspektiven – auf die Landschaft, auf mich selbst und auf das, was mir wichtig ist.
Tag 8 – Ein Pausetag, den ich mehr gebraucht habe – als ich dachte
Start: Planinski dom na Kališču
Ziel: Planinski dom na Kališču
Strecke: 0 km
Aufstieg: 0 hm
Abstieg: 0 hm
Schon beim Aufwachen war mir klar: Heute gehe ich keinen Schritt. Sabrina hatte mir schon mehrfach ins Ohr gelegt, dass ich irgendwann einen Pausetag brauche – und an diesem Morgen spürte ich selbst, wie dringend es war.
Nach zehn Stunden Schlaf plus zwei weitere nach dem Frühstück haben wohl einen Teil der aufgestauten Müdigkeit weggespült. Doch fühlte ich mich paradoxerweise noch schwerer als zuvor. Auch meine Füße schrien nach Erholung: Die Blasen an den Fersen waren zwar fast verheilt, dafür hatten sich neue an der Innenseite gebildet, und fast alle Zehen waren aufgescheuert. Der letzte Hinweis, dass ich tatsächlich eine Pause brauchte, kam von meinen Schlappen – in die passten meine geschwollenen Füße einfach nicht mehr hinein.


Mein Körper hatte sofort erkannt, dass ihm eine Pause gegönnt wurde, und schaltete in den Regenerationsmodus. Ich konnte richtig spüren, wie der Kreislauf auf Ausruhen umstellte. An Aufstehen war kaum zu denken – der Körper holte sich zurück, was ihm in der vergangenen Woche abverlangt worden war. Solche Tage ziehen oft einfach an mir vorbei: schlafen, essen, ein wenig lesen. Mehr nicht. Und doch ringe ich damit. „Unproduktiv sein“ fühlt sich für mich schnell wie „Zeit verschwenden“ an, auch wenn ich weiß, dass Ausruhen genauso Teil des Lebens ist und mich letztlich wieder produktiver macht. Vielleicht sollte ich lernen, auch Pausen als etwas zu betrachten, das ich aktiv tue – so etwas wie „aktive Erholung“.

Zum Frühstück gab es Eier, Salami und Käse mit frisch gebackenem Brot. Der Kaffee war wie immer zweckmäßig. Mittags habe ich einen meiner Wraps verdrückt. Den Rest des Tages verbrachte ich mit Lesen, Schreiben und Nachdenken.
Die Hütte selbst war an diesem Samstag recht belebt: Von früh bis spät kamen und gingen Wanderer, und es schien völlig normal, sich zu jeder Tageszeit einen Schnaps zu gönnen. Scheinbar normal hier. Mir war der Trubel zu viel. Vor allem die Lautstärke machte mir zu schaffen – etwas, das ich mittlerweile kaum mehr ertrage.

Ich hatte den Eindruck, dass Slowenen generell sehr laut reden. Nur einen Tisch weiter saßen die Wirte und ein Gast dicht beieinander – ihre Nähe hielt sie nicht davon ab, in einem Tonfall zu sprechen, als säßen sie am anderen Ende des Raumes. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn der Raum einmal wirklich voll wäre.
Schon auf Reisen in Chile war mir aufgefallen, wie schwer es mir fällt, nach einigen Tagen in der Natur wieder in die Zivilisation zurückzukehren. Alles wirkt plötzlich lauter, dichter, greller. In der Natur ist das lauteste Geräusch vielleicht ein Fluss, der rauscht, oder ein Wasserfall, der sich am Fels entlädt – Geräusche, die fast wie Stille wirken im Vergleich zum Echo menschlicher Stimmen in einem kleinen Gastraum. An solchen Tagen spüre ich besonders, wie sehr ich von Ruhe zehre. Also zog ich mich auf meinen Platz unterm Dach zurück, direkt neben dem einzigen kleinen Fenster, und genoss dort die Stille.

Kurz vor dem Abendessen hörte ich plötzlich vertraute Stimmen. Neugierig kletterte ich die Leiter hinunter – und tatsächlich: Es waren Krista und Rachel, die beiden Amerikanerinnen, die ich zwei Tage zuvor aus den Augen verloren hatte. Sie hatten an dem Tag gar nicht erst versucht, die Hütte zu erreichen, zu der ich mich am Vorabend fast gequält hatte, sondern waren bereits gegen 14 Uhr in einer anderen Hütte eingekehrt – derselben, in der ich am Vormittag ein Stück Kuchen gegessen hatte. Die beiden wiederzusehen, war für uns alle eine große Freude. Niemand hatte mehr damit gerechnet.
Sie waren über eine andere Route gewandert, ohne das Geröllfeld, den harten Anstieg und die Kletterei, die mich zwei Tage zuvor noch gefordert hatten. Auf ihre Art hatten sie alles richtig gemacht. Meine Sorge hatte einzig darin bestanden, dass sie so verrückt wären, doch an jenem schwierigen Ort aufzutauchen, an dem wir uns ursprünglich treffen wollten. Durch meinen Pausetag hatten sie nun wieder aufgeschlossen. Lustigerweise hatten sie sogar eine Nachricht an meine Hütte vom Vortag schicken lassen, die mich aber nie erreicht hat.

Gesellschaft nach einem stillen Tag für mich allein zu haben, fiel mir dennoch schwer. Ich war so sehr nach innen gekehrt, dass mir die Energie für viel Austausch fehlte. Die Freude über das Wiedersehen mischte sich mit einem tiefen Bedürfnis nach Rückzug. Wir verbrachten noch einen ruhigen Abend beim Abendessen zusammen und gingen dann früh ins Bett.
Am Ende war dieser Tag nichts anderes als ein Geschenk – die Erinnerung daran, dass Stillstand manchmal der wichtigste Schritt nach vorn ist.
Tag 9 – Zwischen Regen, Sonne und Stein
Start: Planinski dom na Kališču
Ziel: Koča na Dobrči
Strecke: 26 km
Aufstieg: 2500 hm
Abstieg: 2.500 hm
Eigentlich wollte ich zeitig los und sogar auf das Frühstück verzichten, um es später erst auf dem Berg einzunehmen. Der freie Tag hatte mich allerdings etwas träge gemacht, also entschied ich mich, doch gemütlich zu frühstücken. Dem Duft von frischem Brot und Eiern konnte ich einfach nicht widerstehen. Meine Knochen waren auch noch nicht besonders willig, und so hat sich alles etwas verzögert.
Kurz vor der Abfahrt noch schnell das Nötigste erledigt, dann ging es los.

Die Amerikanerinnen hatten einen kleinen Vorsprung, den ich jedoch in Windeseile eingeholt hatte. Als ich an ihnen vorbeiging, dachte ich noch, dass es besser wäre, mich von ihnen zu verabschieden. Jetzt gab es wirklich kaum noch eine Möglichkeit für sie, mich wieder einzuholen.
Der Berg, auf den ich vor meiner Hütte so einen tollen Ausblick gehabt hatte, war schnell erklommen. Doch er war so dicht mit Wolken verhangen, dass man keine zwanzig Meter sehen konnte – als hätte er die Welt verschluckt und nur den Nebel übriggelassen. Von einer Aussicht konnte keine Rede sein. Windig war es außerdem, also machte ich mich schnell wieder an den Abstieg. Irgendwie erinnerte mich das an Neuseeland, wo wir auch sehr oft das Pech hatten, nach langen Aufstiegen keine Aussicht genießen zu können.

Auf dem zweiten Peak begegnete ich dann den Ungarn vom Vortag! Sie waren sehr überrascht, mich zu sehen. Wir haben ein wenig über den letzten Tag geplaudert. Sie hatten das Glück, in den Genuss einer Dusche zu kommen, und konnten kaum glauben, dass ich sie innerhalb weniger Stunden eingeholt hatte – sie brauchten dafür eineinhalb Tage. Für sie war es ein kleines Rätsel, während ich eher wie zufällig vor ihnen auftauchte. Beim Abstieg auf der anderen Seite sind wir noch ein Stück gemeinsam gewandert. Ich habe mich mit dem Finnen unterhalten und mich dann nach einer Weile verabschiedet, um wieder in meinem eigenen Tempo weiterzugehen.

Ab da ging es nur noch bergab in den nächsten Ort, wo ich auf eine Einkaufsmöglichkeit gehofft hatte. Leider hatte am Sonntag alles geschlossen. Also musste ich die kommenden Tage mit den paar Wraps, einer halben Paprika, Rotkohl, etwas Hummus und Erdnussbutter auskommen, die mein Rucksack beherbergte. Zum Glück bieten die Hütten unterwegs etwas zu essen an, auch wenn die Qualität sehr unterschiedlich ausfällt.

Ich hatte zwar mit frischem Proviant gerechnet, weiß aber inzwischen, dass ich nicht allzu enttäuscht sein sollte, wenn am Ende vom Regenbogen kein Topf mit Gold wartet – oder, wie in diesem Fall, nur ein klappriger Kebabstand. Ich wusste schon vorher, dass kein Supermarkt offen sein würde, doch der geschlossene Burgerladen hat mich trotzdem etwas traurig gestimmt. Der Kebab, den es als Alternative gab, war trocken und unbefriedigend.
Darauf folgten ein leckerer Cappuccino und ein Stück Käsekuchen mit einer Kugel Eis. Den allerdings nicht beim selben Dönermann, sondern in einem kleinen Café, das ich um die Ecke erspäht hatte. Ich merke immer mehr, wie wenig mich eigentlich Süßes noch begeistert. Besonders Eis kann mich kaum noch locken, und doch verfalle ich immer wieder seinem Ruf – auch wenn mir danach der Bauch wehtut.
Frisch gestärkt ging es wieder in den Wald zur nächsten Hütte, wo ich ein paar Tschechen traf, die mir wertvolle Tipps für die slowenischen Alpen und die Besteigung des Triglav gegeben haben.

Irgendwann kommt auf einer Wanderung der Punkt, an dem man genug mit den eigenen Gedanken beschäftigt ist. Für mich ist der mentale Rückzugsort aktuell die „Unwind“-Serie von Neal Shusterman, dessen „Scythe“-Reihe ich sehr schätze. Beim Wandern selbst höre ich gerade mit großer Begeisterung „Die Abschaffung des Todes“ von Andreas Eschbach. Beide Autoren werfen gesellschaftliche Probleme auf und diskutieren sie – besonders Eschbach sehr philosophisch. In beiden Werken wird der Tod – beziehungsweise seine Abschaffung – auf sehr unterschiedliche Weise bewertet.
Was macht eigentlich das Leben lebenswert? Welche Rolle spielt der Tod? Macht er das Leben erst sinnvoll – und warum nutzen wir es dann nicht besser? Oft habe ich das Gefühl, dass das Leben im Alltag einfach an mir vorbeizieht. Doch vielleicht ist es gerade das Gleichmaß, das dem Besonderen seinen Wert gibt. Auf meiner Weltreise war mir auch das ständige Auf-Achse-Sein zu viel. Irgendwas zwischendrin wäre toll. Vielleicht liegt das echte Leben irgendwo zwischen Sehnsucht und Alltag – schwer zu greifen, aber manchmal spürbar.

Durch den Austausch mit anderen Wanderern und das genauere Studium der Karten habe ich mich nun entschlossen, den höchsten Punkt Sloweniens von der anderen Seite als ursprünglich geplant anzugehen. Die Hütte auf der südlichen Seite ist über leichtere Pfade erreichbar – maximal T4 – und von dort ist auch der Aufstieg zum Triglav bis auf den letzten Abschnitt zur Spitze einfacher zu bewältigen. Diese neue Route verspricht nicht nur weniger Schwierigkeiten, sondern auch atemberaubende Ausblicke auf die umliegenden Gipfel und Täler, die ich auf meiner bisherigen Wanderung nicht in vollem Umfang erleben konnte. Da für den kommenden Tag schlechtes Wetter gemeldet ist, werde ich diesen nutzen, um zumindest zu meinem Stützpunkt unweit vom höchsten Gipfel Sloweniens zu gelangen.
Tag 10 – Überraschungen am Stol
Start: Koča na Dobrči
Ziel: Prešernova koča na Stolu
Strecke: 20 km
Aufstieg: 2050 hm
Abstieg: 1300 hm
Die Nacht in der Hütte war erholsam. Mir wurde ein Zimmer ganz für mich allein zugewiesen, und so konnte ich ungestört einschlafen. Zuvor hatte ich noch ein wenig gelesen, dann fiel ich in einen tiefen Schlaf, aus dem ich bis zum Morgen nicht mehr erwachte. Voller Energie und Spannung, was mir der Tag wohl bringen würde, startete ich in den neuen Abschnitt.


Das Frühstück war zweckmäßig – viel Fett, viele Kalorien. Irgendeine Art Speck mit Eiern und Brot. So genau konnte ich gar nicht ausmachen, was es eigentlich war, aber es erfüllte seinen Zweck: satt und mit genügend Energie aufzubrechen.

Der Weg führte zunächst auf einem schmalen Pfad durch den Wald, der sich entlang des Berghangs schlängelte. Ich liebe diese Art Wege: der weiche Boden, das Licht, das sanft durch das Grün fällt und ein Schattenspiel auf den moosbedeckten Waldboden zaubert. Immer wieder ging es leicht auf und ab, bis ein steiler Anstieg begann, der mich auf den ersten Gipfel des Tages brachte – über 2000 Meter hoch, mit einem fantastischen Blick auf den Triglav.


Auf der anderen Seite schlängelte sich der Weg wieder hinab ins Tal, wo ich an einer Hütte Rast machte: ein Mittagessen, ein Kaffee. Ein Rudel junger Franzosen belebte die Szenerie – laut, fröhlich, schnatternd, völlig in ihrer eigenen Welt, als gäbe es ringsum keine anderen Menschen. Ihre Energie hatte etwas Ansteckendes/Abschreckendes, und so brach ich bald wieder auf.

Bis jetzt war dieser Tag der überraschendste auf meiner Reise. Um jede Ecke, die ich umrundete, eröffnete sich mir ein neuer, wunderschöner Ausblick. Das Wetter war traumhaft, mit weitem Blick bis in die Julischen Alpen, die mir noch bevorstehen, und zurück auf alles, was ich bereits durchschritten habe. Geplant waren über 30 Kilometer, doch schon am frühen Nachmittag wurde mir klar, dass sich der Abschnitt steiler darbot als erwartet. Allein von Karte und Höhenprofil ist das oft schwer einzuschätzen. Also entschied ich mich, bei der Hütte auf 2100 Metern zu bleiben – eine gute Wahl, wie sich herausstellte. Kurz nach meiner Ankunft begann es wie aus Eimern zu schütten. Zwar kein Gewitter, aber eben die unberechenbare Seite der Berge. Der silbergraue Stein – ich entschuldige die unprofessionelle Ausdrucksweise – verwandelt sich im Nassen in eine regelrechte Schlittschuhbahn. Ein Abstieg in diesem Regen wäre gefährlich geworden.


Glück hatte ich auch in anderer Hinsicht: Auf der Stolu-Hütte gab es zum ersten Mal WLAN über Satellit. Seit ich Deutschland verlassen hatte, war dies die erste Möglichkeit, mit Sabrina zu telefonieren. Sie war selbst gerade eine Woche mit einer Freundin in den Dolomiten unterwegs, und so waren wir bisher nur per WhatsApp in Kontakt geblieben. Empfang ist in den Bergen schwer vorherzusagen, draußen hätte ich bei dem Sturm ohnehin kein Netz gehabt. Umso schöner war es, dass wir tatsächlich drei Stunden am Stück sprechen konnten. Es fühlte sich noch einmal ganz anders an, ihre Stimme zu hören, statt nur kurze Nachrichten hin- und herzuschreiben.


Das Mehrbettzimmer bot die bisher beste Aussicht der Reise: direkt vom Fenster am Kopf meines Bettes auf die Berge, die hinter mir lagen. Zum Abendessen bestellte ich mir eine Gemüsesuppe. Die Vorräte waren knapp, der Helikopter mit Nachschub sollte erst am Donnerstagmorgen kommen. Ich war froh, dass es überhaupt eine vegetarische Option gab – nicht selbstverständlich. Was ich dann bekam, war tatsächlich Gemüsesuppe, allerdings mit liebevoll hinzugefügten Schinkenstückchen. Sicher gut gemeint. 🙂


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