Jericó – Kolumbien
Vor ziemlich genau drei Wochen bin ich in Jericó, einer kleinen Stadt südlich von Medellín, angekommen. Die Reise hierher gestaltete sich unkomplizierter als erwartet. Nach anfänglichen Schwierigkeiten, ein Ticket online zu buchen, entschied ich mich, einfach vor Ort zum Schalter zu gehen und mit jemandem persönlich zu sprechen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das das letzte Mal gemacht habe. Irgendwie ist es ein beruhigendes Gefühl, sein Ticket vor der Abreise in den Händen zu halten. Da das System meine Kreditkarte nicht akzeptierte, entschied ich mich, einfach eine halbe Stunde vor Abfahrt zum Schalter zu gehen und eine Fahrkarte zu kaufen. Diese Entscheidung bedeutete, ein wenig Kontrolle abzugeben und mit der Ungewissheit zu leben, nicht zu wissen, ob noch ein Platz frei sein würde. Wie sich herausstellte, war die Fahrt zu dieser frühen Stunde nicht sehr beliebt, und ich hatte den Bus fast für mich allein.
Medellín war meine erste Station in Kolumbien. Ich habe schon viel Gutes über die Stadt gehört. Vor allem bei den digitalen Nomaden scheint sie sehr beliebt zu sein. Mein Eindruck war leider nicht ganz so positiv. Vieles scheint sich in den letzten Jahren zum Schlechteren verändert zu haben. Besonders Corona hat viele Menschen auf die Straße und vor allem in die Hände von Drogen getrieben. Auf dem Weg in die Innenstadt begegnet man einer Vielzahl von Menschen, die sich gerade spritzen oder eine Pfeife zubereiten. Wie uns der Guide einer Free Walking Tour erzählt, sind wir Touristen Teil des Problems. Auf der einen Seite bringen wir Geld in die Stadt, mit dem immer mehr Menschen ihr Leben finanzieren können, auf der anderen Seite treiben wir die Preise so in die Höhe, dass sich viele die Mieten nicht mehr leisten können.
Medellín ist für mich wie andere Großstädte auch. Es ist viel zu laut, zu schmutzig und vor allem der Verkehr überfordert mich. Natürlich gibt es auch schöne Ecken. Zum Beispiel kann ich die Museen sehr empfehlen. Fernando Botero, ein Künstler aus Medellín, der weltweit für seine überproportionierten Bilder und Skulpturen bekannt ist. In der Innenstadt sind seine Figuren im Freien und in einem Museum verteilt.
Die dreistündige Busfahrt nach Jericó führte immer höher in die Berge. Vorbei an vielen kleinen Ortschaften und einzelnen Häusern, die sich entlang der Straße aufreihen. Ab und zu stieg an Stellen, die nicht als Haltestelle zu erkennen waren, ein weiterer Fahrgast zu. Irgendwann war auch jemand da, der die Fahrkarten kontrollierte oder kassierte. Aber auch sie stiegen, wie gelegentliche Süßigkeiten- und Saftverkäufer, irgendwo im Nirgendwo aus, um ihren eigenen Weg zu gehen. Wahrscheinlich auf der Suche nach einer neuen Mitfahrgelegenheit, um ihre Waren anzubieten.
Je höher wir in die Berge kommen, desto enger werden die Straßen. Ich frage eine Mitfahrerin, ob sie mir etwas von ihrem Internet abgeben kann, damit ich meinem Freund Johandy Pablo sagen kann, dass wir pünktlich am vereinbarten Ort ankommen. Pünktlich aus kolumbianischer Sicht, nicht aus deutscher. Sie war überrascht über meine Bitte, aber sehr froh, mir helfen zu können, unter der Bedingung, dass ich ihr zeige, wie es geht.
Es war ein freudiges Wiedersehen, als ich aus dem Bus stieg und meinen Freund mit ausgebreiteten Armen in Empfang nehmen konnte. In Deutschland haben wir uns immer nur auf Partys getroffen und hatten nie die Gelegenheit, uns richtig zu unterhalten. Hier fingen wir sofort an, das nachzuholen. In den nächsten Wochen werden wir mehr als genug Gelegenheit haben, uns über unser Leben auszutauschen und uns gegenseitig bei unseren Zukunftsplänen zu unterstützen. Immer wieder stellten wir fest, wie ähnlich wir uns sind.
Ich bin begeistert, wie günstig Kolumbien aus europäischer Sicht ist. In der Herberge habe ich 7 Euro für die Nacht bezahlt. Ein einfaches Mittagessen, bestehend aus Reis, etwas Salat, tierischem Eiweiß und Bohnen, mit einem Getränk und einer Suppe gibt es schon für 12.000 Pesos. Das entspricht etwa 2,50 €. Einen Cappuccino in einem “schicken” Café bekommt man für 1 Euro.
Bei meinem ersten Einkauf in einem kleinen Gemüseladen an der Straße war ich überrascht, wie hier die Preise gemacht werden. Ich hatte eine Handvoll Tomaten, ein paar Gurken, Avocados, Karotten, Kartoffeln, Zwiebeln und noch andere Kleinigkeiten. Am Ende war eine große Einkaufstüte voll, die der gute Mann einfach zusammen in den Wagen gelegt hat. Hier scheint alles einen Einheitspreis zu haben. Für nur 19600 Pesos (ca. 4 €) ließ er mich von dannen ziehen.
Meine Unterkunft in einer Finca kostet 160 € für den ganzen Monat. Nicht die billigste im ganzen Ort, aber mit viel Ruhe, wenn die Putzfrau nicht gerade den Laubbläser mit dem Besen verwechselt. Was sie jeden Tag genau dann tat, wenn ich mich konzentrieren oder schlafen wollte. Es scheint alle hier im Haus zu stören, aber niemand scheint etwas sagen zu wollen. Vielleicht ist das etwas Kulturelles. An einem Tag, an dem ich schlecht geschlafen habe, war es mir zu viel. Ich musste es ihr wenigstens sagen. Ich habe das Gefühl, dass sie sich gar nicht bewusst war, dass es jemanden stören könnte.
Alle meine Mitbewohner sind hier, um ein schönes, entspanntes Leben abseits der Hektik der Stadt zu führen. Ich wohne mit drei Künstlern und einem Programmierer zusammen. Alles passt irgendwie zusammen. Ich habe mich vom ersten Tag an willkommen und integriert gefühlt. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus. Manche, wie ich, stehen früh auf, um die Ruhe des Morgens zu genießen. Die Sonne geht hier sehr früh unter, aber auch sehr früh auf. Das kommt mir sehr entgegen. Ich lebe gerne nach dem Rhythmus der Sonne. Andere lassen die Fenster länger geschlossen und begrüßen den Tag etwas später. Spätestens wenn Norma den Laubbläser anwirft, ist für alle die Nacht vorbei.
Wir treffen uns regelmäßig draußen auf der Veranda zum Plaudern und Kaffeetrinken. Meine Frisbeescheibe bekommt immer wieder Streicheleinheiten und auch den einen oder anderen Sturz den steilen Hang hinunter. Wir lachen viel. Fast jeden Tag gibt es heiße Schokolade für alle. Eine Mischung aus Kakao, Zuckerrohr und Gewürzen. Hier umarmt man sich, wenn man sich begegnet. Man fühlt sich wie in einer kleinen Familie. Wenn man von so vielen lieben Menschen umgeben ist, muss man sich nicht anstrengen, um außerhalb der Finca Anschluss zu finden. Hier hat man alles, was man braucht. Gemeinsam haben wir viele schöne Momente in den Bergen rund um Jericó und bei Live-Musik in der Stadt verbracht. An einem Abend haben wir zusammen musiziert und uns gegenseitig selbstgeschriebene Gedichte vorgelesen.
Wir spielen gerne Karten zusammen. Ich habe ihnen Dutch beigebracht. Ein Spiel, bei dem man sich Karten merken muss. Das erinnert mich an die Jahre in Mannheim. Da haben wir uns bestimmt einmal die Woche getroffen und zusammen gespielt. Es ist schön, dass sich das auch hier ein bisschen eingebürgert hat. So fühle ich mich noch ein bisschen mehr zu Hause.
In Jericó spielt sich das gesellschaftliche Leben auf dem zentralen Platz neben der Kathedrale ab. Alle möglichen Restaurants und Cafés versammeln sich hier. Es wird Musik gespielt, fliegende Händler sind unterwegs und bieten allerlei Köstlichkeiten an. An der Ecke gibt es das beste Eis der Stadt, meine Worte, nicht ihre. Von diesem Platz aus strecken sich die Straßen wie kleine Finger in alle Richtungen. Hier findet man an jeder Tür irgendeinen kleinen Laden. Alles scheint hier noch sehr spezialisiert zu sein. Selten bekommt man alles auf dem Einkaufszettel an einem Ort. Hier fühlt man sich noch wie in einer mittelalterlichen Kleinstadt. Jeder, der etwas verkaufen will, macht vorne seine Tür auf und verkauft. Es gibt zwar eine Art Supermarkt, aber der ist höchstens halb so groß wie ein Aldi bei uns und hat auch nicht alles. Er hat zum Beispiel kein Gemüse.
Routine
Für mich gibt es zwei Arten von Routinen. Die eine gibt mir einen gewissen Halt in dem, was ich regelmäßig tun möchte. Die andere lässt mich bequem werden, weil ich nicht genug Neues erlebe. Die erste treibt mich an, meine Ziele zu verfolgen. Die zweite ist die Grundlage der Komfortzone, aus der ich eigentlich ausbrechen will. Irgendwie ist es ein Tauziehen, getrieben zu sein, etwas tun zu müssen und auch mal alle vier gerade sein zu lassen und mit dem Flow zu gehen. Ich habe da noch keine gute Balance gefunden. Irgendwie scheint es ein Teil von mir zu sein, immer “produktiv” sein zu müssen, oder ich habe das Gefühl, dass ich die Zeit, die mir zur Verfügung steht, nur verschwende.
Früher habe ich durchaus versucht, diese Stimme mit Kiffen ruhig zu halten. Wenn ich das Gefühl hatte, dass es an der Zeit war, nichts mehr zu tun, habe ich mir einen Joint gedreht und mein Gehirn ausgeschaltet. Das funktioniert erstaunlich gut. Irgendwann merke ich aber, dass ich dadurch noch mehr bewusste Qualitytime, ich hasse dieses Wort, verschwende. Ich mag es nicht, weil es wieder eine Messlatte anlegt, wie man seine Zeit verbringen soll und wie nicht. Die Zeit, die ich als “verschwendet” ansehe, ist die, die ich auf Autopilot verbringe. Ich glaube, das ist genau das, was uns die Meditation lehren will. Wir tun genau eine Sache zu einer Zeit, nicht mehr. Ich schenke der Person, mit der ich gerade spreche, oder dem, was ich gerade tue, meine volle Aufmerksamkeit, ohne über die Vergangenheit oder die Zukunft nachzudenken, ohne parallel etwas anderes zu tun. Meistens ist es das Handy. Ich erlebe es fast täglich, dass ich etwas Bestimmtes am Handy machen will, dann aber von einer Benachrichtigung abgelenkt werde und nach kurzer Zeit gar nicht mehr weiß, was ich eigentlich machen wollte.
Mit Autopilot meine ich unreflektiertes Konsumieren, ohne hinterher auch nur ansatzweise zu wissen, was man da eigentlich konsumiert hat. Wie viele Stunden habe ich schon Youtube laufen lassen, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, worum es da eigentlich geht. Das war einer der Gründe, warum ich vor vielen Jahren beschlossen habe, mir keinen Fernseher mehr anzuschaffen. Leider wurde dieser große Bildschirm durch viele kleine ersetzt, die noch mehr ungezielten Konsum propagieren. Eine permanente Flut zielgerichteter Ablenkung. Es gab eine Zeit, in der ich versucht habe, bewusster zu konsumieren. Ich habe mir zum Beispiel ein Video ausgesucht, das mich interessiert hat, und mir dann ein paar Gedanken dazu gemacht, die ich aufgeschrieben habe. Leider hat das nicht lange gehalten.
Mittlerweile beschränke ich meinen YouTube-Konsum auf 20 Minuten pro Tag. Wobei ich bis zu 10 Minuten verlängern darf, wenn etwas spannend ist. Das hält mich zwar nicht vom unbewussten Konsum ab. Aber es sorgt zumindest dafür, dass ich es nicht unkontrolliert lange mache.Vor allem, wenn ich müde bin, greife ich gerne zum ziellosen Konsum. Leider hilft mir das nicht, mich zu entspannen. Im Gegenteil, ich bin danach geistig erschöpfter als vorher. Ich hätte mich in der gleichen Zeit auch hinlegen oder meditieren können. Einfach nichts zu tun, ist für mich oft keine automatische Option. Und dann bin ich gereizt und schreibe Absätze wie diesen.
Ich bin noch bis mindestens Ende Februar nächsten Jahres in Südamerika. Aber ich habe gemerkt, dass ich nicht die ganze Zeit unterwegs sein möchte. Es ist anstrengend für mich, ständig in Bussen zu sitzen und in verschiedenen Betten zu schlafen. Ständig neue Bekanntschaften, immer der gleiche Smalltalk, ohne wirklich jemanden kennenzulernen, das finde ich anstrengend.
Ich fühle mich in einer Routine wohler, als einfach nur in den Tag hineinzuleben. Wo früher die Arbeit einen gewissen Rhythmus vorgegeben hat, muss ich mir jetzt selbst eine Beschäftigung suchen, einen gewissen Sinn, der mich durch den Tag führt. Ich suche das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Dabei merke ich aber auch, wie sehr ich von diesem Gefühl des organisierten Alltags getrieben bin. Wenn ich mein Pensum nicht schaffe, nagt das direkt an mir. Die Lockerheit der Kolumbianer hätte ich gerne mal. Hier werden Absprachen eher Vorschläge als Festlegungen. Hier scheint es niemanden zu stören, wenn man zu spät oder gar nicht kommt. Alles geschieht im Fluss des Augenblicks. Wenn man irgendwo hingeht, wird man sicher von dem einen oder anderen Freund auf ein Schwätzchen angehalten. Freunde hat man hier schnell viele und somit auch Stopps auf dem Weg.
Ich habe mir ein paar Dinge vorgenommen, die ich in meine Routine einbaue. Wöchentlich überlege ich, ob mir die Routine so noch Spaß macht und nehme kleine Anpassungen vor. Mein Morgen beginnt jeden Tag gegen 6.30 Uhr mit einer 15-minütigen Meditation. Ich möchte den Tag bewusst beginnen und erleben. Dann mache ich mir eine schöne große Tasse Tee mit einem Schuss Honig. Damit schreibe ich etwa eine Stunde. Mein Ziel ist es, täglich mindestens tausend Wörter zu Papier zu bringen. Zurzeit schreibe ich hauptsächlich an einem Buch, ansonsten für den Blog und für mich selbst. Wenn ich an einem Tag keinen anderen Sport treibe, mache ich entweder eine Flexibilitätsroutine oder Yoga. Ich wechsle zwischen beidem mit dem Ziel, den Schweizer Handstand frei zu machen. Ich merke schon, wie viel stabiler und aufrechter ich im Handstand bin. Aber wenn ich mir ein Video von meiner Yogastunde ansehe, merke ich, dass noch viel Luft nach oben ist.
Pläne, Helfen oder Wandern
Meine Reise führt mich in den Norden, in eine kleine Stadt namens Minca, unweit der Stadt Santa Marta an der Karibikküste. Wenn möglich, möchte ich dort auf einer Permakultur-Farm in den Bergen mithelfen. Noch habe ich keine Antwort. Sollte es nicht klappen, würde ich mich zu Fuß auf den Weg in die Berge machen. Mein Zelt habe ich schon lange nicht mehr aufgestellt und die Wanderschuhe schimmeln schon.
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