Privilegiert mit Abstand
Ich bin in einem kleinen Paradies. Meine Flucht aus der Stadt in einen abgelegenen Ort außerhalb von Teresopolis, zwei Stunden nördlich von Rio de Janeiro. Hier habe ich ein Zimmer im Haus der Familie Vercosa gemietet, um etwas Ruhe zu finden und der Hitze der Stadt zu entfliehen. Als ich mit dem Uber ankomme, regnet es bereits in Strömen. Google Maps hat Schwierigkeiten, den genauen Weg zum Haus zu finden.
Keine Straße, kein Weg scheint direkt dorthin zu führen. An einem vielversprechend aussehenden Weg lasse ich mich, bepackt mit Einkäufen für die ganze Woche, absetzen. Leider ist es der falsche Weg, der mich zum Nachbargrundstück, einer Weide, auf der anderen Seite des Zaunes führt. Ich bin pitschnass und mein Uber schon wieder auf dem Rückweg. Mit dem Rucksack auf dem Rücken völlig durchnässt zu sein, erinnert mich ein wenig an meine Wanderung in Neuseeland.
Da sich der Zaun als unüberwindbar erweist, gebe ich mich geschlagen und mache mich auf den Rückweg zur Straße. Im strömenden Regen finde ich bald den Eingang durch einen verwunschenen Wald, der den Weg auf das üppige Grundstück mit Pool und Teich freigibt.
Drei Hunde und ein paar Katzen leben hier. Die Besitzer lassen den nassen Pudel nach einem kurzen Zuruf in ihre Hallen. Wir verständigen uns auf Portugiesisch, eine Sprache, die ich seit vielen Jahren nicht mehr gesprochen habe. Die Freude, sie zu sprechen, kehrt langsam zu mir zurück. Der Sohn, Abel, hilft mir, meine nassen Sachen zum Trocknen aufzuhängen, die Mutter, Raquel, beim Verstauen der Lebensmittel.
Beide unterhalten sich gerne. Eine gute Gelegenheit für mich zu üben. Schon am nächsten Morgen plaudern wir stundenlang über das Leben in Brasilien, die brasilianische Politik und vor allem über die Korruption in den oberen Etagen. Raquel fragt eher rhetorisch: „Welches Recht haben die Reichen, auf Kosten der Armen immer mehr anzuhäufen, ohne auch nur daran zu denken, den Massen etwas zurückzugeben?“ Gerade in Rio wird mir deutlich, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich ist. In farbigen Tönen schildert Abel, dass viele Brasilianer für ihre Arbeit leben, ohne erkennbaren Ausweg aus der Misere. Ironischerweise leben auch viele Reiche für die Arbeit, obwohl sie die Möglichkeit hätten, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten.
Menschen leben davon, in den verstopften Straßen Tüten mit Kartoffelchips zu verkaufen. Horden junger Männer warten den ganzen Tag auf das Rotlicht der Ampeln, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ich vermute, es bleibt nicht viel Spielraum, um diesem Leben zu entfliehen, um vielleicht eines Tages auf der anderen Seite des Uber-Fensters zu sitzen und mit schlechtem Gewissen immer wieder die angebotenen Snacks abzulehnen.
Während ich diese Zeilen schreibe, liege ich in einer Hängematte und lausche dem prasselnden Regen. Ich frage Raquel, ob es einen Unterschied gibt zwischen den Superreichen und uns, die wir hier unser Leben in bescheidenem Reichtum genießen können. Sie meint ja, denn die herrschende Elite schröpft die Armen, um noch reicher zu werden, während wir ja nur die uns gegebenen Möglichkeiten nutzen, um uns das Leben in dieser Hölle etwas angenehmer zu gestalten. Ich denke, auch wir können einen Beitrag nach „unten“ leisten, auch wenn er vielleicht nicht das Leben aller Menschen auf der Erde verändert, so können wir doch das Leben einzelner im Rahmen unserer Möglichkeiten positiv beeinflussen.
Leider vergesse ich selbst viel zu oft, welche Privilegien ich allein dadurch genieße, dass ich in einem westlichen Land geboren wurde und mein eigenes Ego in den Hintergrund zu stellen. Ich hoffe, dass allein das Bewusstsein und der Austausch über diese Missstände ein erster Schritt zu einer gerechteren Welt sein kann. Im Moment kann ich nur sagen: Fortsetzung folgt.
Kleiner Nachtrag: Etwa 500 Meter vom Anwesen entfernt befindet sich ein Hotel im Stil eines Schweizer Kantons. Dort gibt es einen Freizeitpark, eine Skihalle und sogar ein kleines Schloss. Irgendwie ironisch, in so einer Umgebung über Privileg zu schreiben.
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