Extremer Abgrund – Huayahuas – Peru
In vier Kilometern Höhe über dem Erdboden werde ich vor den Bauch eines anderen Mannes gespannt. Nach und nach gleiten die anderen Tandems vor mir Richtung Gate. Ohne mein Zutun, Kopf nach hinten und auf Wiedersehen. Einige fangen an zu schreien, geraten in Panik, ich genieße die Aussicht. Aus einem Flugzeug gesprungen zu werden, bringt meinen Puls nicht in Wallung.
Was meinen Puls auf Trab bringt, ist, schwierige Situationen selbst zu meistern, vom Weg abzukommen und seinen eigenen, riskanten Weg zurück zu finden. Es gibt einen Grund, warum sich von diesem 5000 Meter hohen Sattel namens San Antonio aus ein Weg in eine bestimmte Richtung entwickelt hat. Immer und immer wieder wurde dieser Weg durch weitere Schritte gefestigt, dieser Weg hat zuvor funktioniert und sich bewährt. Ich sehe vor mir viele Möglichkeiten, die sich noch nicht etabliert haben, ich aber als lohnenswert zu erkunden erachte. Was kann da schon schief gehen?
Wages Vortasten
Andere würden einen Abgrund sehen und umkehren, aber ich habe schon zu viel investiert, ich gehe weiter, auch wenn das bedeutet, unangenehme Entscheidungen treffen zu müssen. Nur weil der Weg, den ich eingeschlagen habe, nicht sicher und bequem ist, heißt das nicht, dass ich ihn nicht gehen kann. Jeder Schritt ist genau geplant, ein falscher Schritt bedeutet Abrutschen, nicht ins Unendliche, aber doch in gewisser Weise unkontrolliert. Ich lehne mich zurück, um nicht das Gleichgewicht in der Tiefe zu verlieren. Das Adrenalin versetzt mich in höchste Konzentration. Mein Blick schärft sich wie der eines Adlers auf der Suche nach Beute.
Ich klammere mich zwischen den Felsen fest und kraxele nach unten. Die Stöcke fliegen voraus, sie sind mir nur im Weg. Ich brauche meine Hände, um mich am Fels festzuhalten, geschafft, ein Hindernis weniger. Aber es wird nicht leichter.
Die Karte zeigt einen Weg, nicht weit von mir. Gerne würde ich ihn erreichen, um wieder in Sicherheit zu sein. Aber die steilen Wände versperren mir den Weg. Immer wieder muss ich um sie herumklettern, anstatt auf den Pfad zu gelangen. So steil kann es nicht sein, wenn hier oben sogar Kühe grasen. Sie scheinen vom gleichen Schlag zu sein wie ich. Höhenangst scheinen sie wie ich nicht zu kennen.
Ich blühe auf in meiner vollen Konzentration. Ich bin hundertprozentig da. Das ist es, was ich brauche. Ich nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit jemanden zu suchen, der mich für solche Abenteuer trainieren kann, der mir zeigt, wie ich mich in einer solchen Umgebung sicher bewegen kann, welche Ausrüstung ich zu meiner eigenen Sicherheit dabei haben sollte. Ich freue mich auf diese neue Herausforderung.
Noch extremer
Ich lasse mich leicht zu immer größeren Abenteuern überreden. Oft überzeuge ich mich selbst, noch ein Stück weiter zu gehen. Schon seit einigen Tagen hatte ich vor, den Gletscher Rasac zu überqueren, der auf der Alpinen Route liegt. Da ich keine geeignete Ausrüstung wie Steigeisen oder Seile dabei hatte, habe ich mich vorher bei einem Bergführer erkundigt, ob die Überquerung auch ohne möglich sei. Er riet mir zwar zur Vorsicht, meinte aber, es sei kein Problem.
Erste Zweifel
Beim Abstieg ins Tal vor dem Gletscher habe ich schon mit mir gerungen. Sollte ich es wirklich wagen? War der Tag nicht anstrengend genug? Schließlich schaute ich in den Wetterbericht. Sonnenschein und kaum Niederschlag. Ich hatte noch ca. 3 Stunden Zeit, um die ca. 600 Höhenmeter aufzusteigen und auf der anderen Seite einen Zeltplatz zu finden. Ich redete mir ein, dass ich jederzeit umkehren könnte. Etwas, was mir normalerweise nicht so leicht fällt. Aber das blieb mein Aufhänger weiter zu machen. Ich schob mir noch ein Brot in den Mund, füllte mein Wasser an der Lagune zu meinen Füßen auf und machte mich auf den Weg.
Ich hatte noch nicht viel gegessen. Aber ich wollte mich nicht mit einem ausgedehnten Mittagessen aufhalten. Der Aufstieg zum Gletscherfuß war anstrengend, zumal ich am Vormittag schon über 1000 Höhenmeter bergauf und bergab hinter mir hatte. Auf einem Grat aus Fels und Geröll ging es Meter für Meter nach oben. Die Füße schmerzten mit jedem Schritt mehr. Immer wieder legte ich Pausen ein, um zu trinken und zu verschnaufen. Meine Hartnäckigkeit brachte mich schließlich bis zum Gletscher.
Auf der Karte war zu sehen, dass der Weg entlang des Gletschers am Fels aufwärts führt. Leider waren die Koordinaten nicht sehr genau. Also versuchte ich es zuerst über den Gletscher selbst. Bis etwa zur Hälfte des Gletschers konnte ich gut gehen, ohne abzurutschen. Auf dem Gletscher lag Neuschnee, der unter meinem Gewicht knirschend zu Eis wurde. Ich hatte einen guten Tritt und so ging es weiter nach oben.
Immer wieder hörte ich es im Eis knacken. In der Ferne fielen Brocken mit einem Krachen herab. Ein mulmiges Gefühl machte sich in mir breit. Ich konnte nicht ausmachen, ob die Geräusche von mir stammten. Mir fehlte einfach die Erfahrung. Noch nie war ich auf einem Gletscher unterwegs gewesen, schon gar nicht allein.
Mein mulmiges Gefühl treibt mich an den Rand des Gletschers, wo eine steile Felswand in die Höhe ragt. Der Pfad scheint viel weiter oben am Fels zu verlaufen. Ich versuche, ihn hinaufzuklettern. Geröll und Schlamm machen es mir fast unmöglich, mich vorwärts zu bewegen. Im Gegenteil, mein Gewicht in Kombination mit dem Rucksack und der Mangel an geeigneter Ausrüstung lassen mich immer weiter abrutschen. Ich denke an Umkehr. Einen letzten Versuch will ich noch wagen. Links oben sehe ich ein paar Felsen, die mir genügend Halt für den Aufstieg geben könnten. Es braucht einige Versuche und viel Schlamm, der an mir vorbei rutscht, bis ich dort ankomme. Ich beginne zu klettern. Adrenalin schießt durch meine Adern. Würde ich rückwärts fallen, gäbe es nichts, woran ich mich festhalten könnte. Beim Aufstieg helfen mir meine Stöcke immer weniger. Irgendwann muss ich einsehen, dass es einfach keinen Sinn macht, noch mehr zu riskieren. Ich lasse die Stöcke fallen. Ohne sie fällt mir der Abstieg leichter. Rutschend komme ich dort an, wo ich meine Klettertour begonnen habe.
Ich weiß nicht mehr genau, auf welchem Weg ich hierher gekommen bin. Aber den Weg über das Eis wollte ich nicht mehr wagen. Ich suche mir einen Weg entlang des Gletschers. Durch den frischen Schnee ist nicht gut zu erkennen, wo man sicher treten kann und wo sich unter der Pulverschicht ein Hohlraum befinden könnte. Vorsichtig taste ich mich mit kleinen Schritten voran. Ich rutsche aus. Doch schnell habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Langsam rutscht mein Herz in Richtung Hose. Nach einigen weiteren rutschigen Abschnitten erblicke ich in der Höhe einen Turm aus Steinen. Ein Zeichen vergangener menschlicher Anwesenheit. Bin ich die ganze Zeit einer falschen Fährte gefolgt?
Ich bin hungrig und habe nur noch wenig Energie. Langsam ziehen auch Wolken auf und nehmen mir das wärmende Sonnenlicht. Ich schaue weiter in die Höhe. Zwei weitere Steinhaufen sind zu sehen. Ein Signal, meine Rückkehr zu überdenken. Ich raffe mich wieder auf und gebe dem Steinhaufen eine Chance. Wieder einen glitschigen Hang hinunter zum ersten Haufen. Von dort sieht der Weg vielversprechend aus. Am Fels entlang klettere ich zum nächsten Haufen. Meine kleine Erfahrung in der Kletterhalle gibt mir das Selbstvertrauen, nicht stehen zu bleiben. Nach unten schauen ist keine gute Idee. Jetzt geht es nur noch nach oben. Ich weiß nicht wie, aber der letzte sichtbare Steinhaufen führt wieder über einen mit Geröll und Schlamm übersäten Hang. Selbst ich muss in dieser Situation meinem Ego einen kleinen Schlag versetzen und mir eingestehen, dass es sich so kurz vor dem Ziel nicht lohnt, gebrochene Knochen oder Schlimmeres zu riskieren. Vorsichtig mache ich mich auf den Rückweg.
Mit letzter Kraft und halb verhungert komme ich wieder unten an der Lagune an. Ein kleines Stück Wiese dient mir als Rastplatz für die Nacht. Schnell baue ich mein Zelt auf. Der Kocher wird angeworfen, um mir die Kalorien zuzubereiten, nach denen mein Körper seit Stunden lechzt. Während die Suppe kocht, schmiere ich mir ein Brot mit Avocado. Trotzdem bin ich stolz auf mich, diesmal weniger wegen der körperlichen Leistung, sondern weil ich meine Grenzen erkannt habe und meinem Instinkt gefolgt bin.
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