Dhamma Vipassana – Meditationsretreat auf Probe
Am Anfang konnte ich mir kaum vorstellen, 10 Tage in völliger Stille in Meditation zu verbringen. 12 Stunden am Tag. Man muss auch Sitzfleisch haben.
Ankunft
Der Busfahrer, der mich direkt zum Eingang des Meditationszentrums bringen sollte, weigerte sich, von seinem Fahrplan abzuweichen. Er darf nur an bestimmten Haltestellen halten. Sehr zu meinem Ärger. Ich bin über eine Stunde zu spät. Das scheint allerdings niemanden zu interessieren.
Als ich ankomme, sind einige Leute dabei, sich kennen zu lernen, andere stehen einfach auf der Wiese vor dem Hauptgebäude. Pferde, die zum Anwesen gehören und offenbar als Rasenmäher angestellt sind, laufen frei herum. Später erfahren wir, dass sie nicht gestreichelt werden dürfen. Alles Teil des Programms. Ein weiterer Teil des Programms war es unsere Telefone abzugeben. Lesen, Schreiben, Sport, alles untersagt.
Nachdem alle angekommen waren, gab es ein leichtes Abendessen und dann die Einführung, mit der der Ernst des Silent Retreats begann, absolute Stille. Im Grunde war keinerlei Kontakt erlaubt, nicht einmal durch Gesten oder mit den Augen. Das führte dazu, dass alle Teilnehmer plötzlich wie Zombies durch die Gegend liefen. Jah, nicht aus Versehen jemanden ansehen. Mit ernster Miene. Ich habe mir von Anfang an vorgenommen, mich nicht hundertprozentig an diese Regel zu halten. Rebellisch! Ich will wissen, was die anderen bewegt, was sie denken. So finde ich nach und nach Gleichgesinnte, die sich auch trauen, in die Gesichter der anderen zu schauen.
Im Speisesaal sind die Tische an die Wand geschraubt. Ich habe ein Fenster, durch das ich hinausschauen kann. Es ist still, man hört ein wenig das Klappern und Kratzen der Teller. Niemand spricht. Ein Hüsteln. Das ist alles. Perfekte Stille, in der sich nicht einmal eine Mücke einen Laut erlaubt.
Um 22 Uhr wird das Licht im geteilten Zimmer gelöscht. Die Nächte sind kurz.
Tag 1 – Eingewöhnung
Um vier Uhr morgens ertönt dreimal der Gong, der unseren Tag strukturiert. Gong! Gong! Gong! Mein Körper vibriert. Voller Begeisterung erhebe ich mich aus meinem Stockbett. Noch 30 Minuten bis zum nächsten Gong. Zahnbürste im Mund. Noch ist niemand auf Non-Kommunikation eingestellt. Ich stehe bestimmt 10 Minuten mit Schaum im Mund vor dem Bad, das an unser Zimmer angeschlossen ist. Nonverbale Rücksichtnahme muss erst geübt werden. Später entdecke ich ein Waschbecken draußen, das nicht so stark frequentiert ist.
Es gibt einen Putzplan für das Bad und einen Duschplan, in den man sich eintragen soll. Ich lasse einige Zeit verstreichen, bis ich meinen Namen auf die Liste setze. Rebellisch! Auf der Duschliste trage ich mich zweimal ein und streiche mich dann wieder komplett. Eigentlich gab es keinen Grund, so streng zu sein. Es gab auch eine Außendusche. Gleich neben dem Trockenklo und meinem geliebten Waschbecken. Fast wie auf einem Festival.
Vorher war ich nie länger als eine Stunde am Stück in der Meditation, im Schnitt kaum mehr als 20 Minuten. Vor dem Frühstück hatte ich mich schon zwei Stunden in mich gekehrt. Wenn man sich auf etwas vorbereitet und nichts anderes zu tun hat, kommt einem das gar nicht so lange vor. Es gab nichts zu planen. Man ist von allen Verpflichtungen befreit.
Ich habe mich immer ein bisschen von Mahlzeit zu Mahlzeit gehangelt. Vor allem, wenn die letzte Mahlzeit am Vortag mehr als 12 Stunden zurücklag und nur aus einem halben Apfel und einer halben Banane bestand.
Das Essen, das uns zubereitet wurde, war einfach und bestand aus Reis oder Nudeln, etwas Tomatensauce und Salat. Wir wurden ermahnt, nicht so viel zu essen. Das würde uns nur müde machen und unnötig ablenken.
Tag 2 – Atem
Jeder Tag läuft gleich ab, zwei Stunden Meditation nach dem Aufstehen, Frühstück und Pause, drei Stunden Meditation, Mittagessen und Pause, vier Stunden Meditation, Snack und Pause, drei Stunden Meditation mit Anweisungen für den nächsten Tag. Dazwischen gibt es immer 5-10 Minuten Pause, um sich die Beine zu vertreten.
Die ersten beiden Tage haben wir uns auf unseren Atem konzentriert. Wo berührt jeder Atemzug die Nasenöffnung? Wie fühlt sich jeder Atemzug an? Welche Unterschiede können wir zwischen den Atemzügen spüren?
Tag 3 – Fortschritt
Wir konzentrieren uns nur auf den Bereich zwischen Nase und Oberlippe. Welche Empfindungen spüren wir dort? Es ist kalt, warm, kribbelnd. Ich spüre jeden Luftzug. Ein Gefühl, an dem ich mich festhalte, wie an einem Ast. Er gibt mir Halt. Er ist mein Anker, an dem ich mich festhalten kann, wenn meine Gedanken abschweifen. Ich habe einen unruhigen Geist, der immer wieder besänftigt werden will. Sicher ein Phänomen, das in unserer modernen Welt mit den vielen Möglichkeiten und Eindrücken, die täglich auf uns einströmen, noch verstärkt wird. Unser Geist ist nicht dafür geschaffen, abgelenkt zu werden. Die Meditation versucht, uns für den Alltag zu rüsten, so wie uns das Training im Fitnessstudio mit einem gestärkten Körper in die Welt entlässt.
Ein Nebenprodukt ist, dass man sensibler für Sinneswahrnehmungen wird. Man riecht, hört und sieht plötzlich intensiver. Ich kann mich plötzlich an kleinen Dingen erfreuen, wie kaum zuvor. Ich beobachte die Ameisen, wie sie über die Wäscheleine laufen oder wie sie kleine Stöckchen in ihren Bau im Boden schleppen. Ich laufe barfuß über die Wiese, um jede Berührung in mich aufzunehmen. Man merkt, wie sehr die Reizüberflutung der Welt einen abgestumpft hat. Ein Umkehrprozess setzt ein.
Ihr könnt gerne versuchen, euch nur für zehn Minuten ruhig hinzusetzen, die Augen zu schließen und eure Atmung so genau wie möglich zu beobachten. Jedes Mal, wenn ihr merkt, dass ihr abgeschweift seid, kehrt ihr wertfrei zum Atem zurück. Das ist alles. Abschweifen ist normal. Es ist Teil des Prozesses.
Tag 4 – Der Zusammenbruch
Zur Nachmittagsmeditation sitzen wir alle im Meditationsraum im hinteren Teil des Anwesens. Zuvor haben wir in der Gruppenmeditation gelernt, uns auf die verschiedenen Körperteile zu konzentrieren, einen Scan zu machen, der die Wahrnehmung für kleinste Veränderungen schärfen soll. Man konzentriert sich zum Beispiel auf den Oberarm und untersucht, wie er sich anfühlt, welche Empfindungen auftauchen. Das kann ein Kribbeln sein, ein Luftzug vom Ventilator an der Decke, ein Zwicken, Wärmeunterschiede, alles, was einen daran erinnert, dass man genau diesen Körperteil hat. Und zwar in jedem Moment genau diesen Körperteil. Alles andere muss ausgeblendet werden. Man lernt sich zu konzentrieren.
Plötzlich ein Knall. Etwas ist auf den harten Boden gefallen. Die Konzentration ist plötzlich ganz auf die Richtung des Knalls gerichtet. Ich öffne die Augen, um zu sehen, woher das Geräusch kommt. Einer meiner Mitmeditierenden ist umgekippt. Er liegt regungslos neben seinem Kissen auf dem Boden. Unser Betreuer Daniel eilt sofort zu ihm, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut geht. Mir ist mulmig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir das passiert, aber es hätte jedem von uns passieren können. Jeder von uns befindet sich in einer außergewöhnlichen Situation. Jeder von uns verlangt seinem Geist alles ab.
Daniel führt Alejandro hinaus. Die Meditation geht weiter, als wäre nichts geschehen. Der Raum bewahrt die Ruhe, für die wir alle hier sind. Weitere 20 Minuten bis zum Gong. Eine der Meditierenden meldet sich und bittet darum, sprechen zu dürfen, was normalerweise außerhalb der Sprechstunden verboten ist. Blanca, unsere Professorin, winkt ab. Wir gehen alle hinaus.
Ein Stück Obst und eine Stunde Pause (descanso). Ich spüre, dass dies weder für mich noch für die anderen die übliche Pause ist. Eine Unruhe liegt in der Luft. Ich kann verstehen, dass Blanca sich erst einmal einen Überblick über die Situation verschaffen will, sich um Alejandro kümmern will, bevor sie zu uns darüber spricht.
60 lange Minuten später ertönt der nächste Gong zur Gruppensitzung. Wir sind alle gespannt, was Blanca uns zu sagen hat. Mehr noch als in den vergangenen vier Tagen sehnen wir uns nach den Worten unserer spirituellen Führerin. Jeder setzt sich auf seinen Platz. Ich schaue mich um. Normalerweise beginnt jeder sofort mit der Meditation, wenn er den Raum betritt. Viele haben die Augen geöffnet. Blanca tritt ein. Sie macht es sich auf ihrem erhöhten Platz bequem, wie auf einem Altar, der uns zugewandt ist. Sie schlägt die Decke über ihre Beine und ihre rechte Schulter. Sie setzt ihre Brille auf und beugt sich nach rechts, um ihren MP3-Player für die nächste Lektion vorzubereiten.
Ich kann es kaum glauben. Ohne Reaktion, ohne Geste setzt sie ihr Programm fort. Ich frage sie, ob sie sich zu dem Geschehenen nicht äußern wolle. Sie antwortet nur, es sei jetzt nicht die Zeit zu sprechen. Ein Raunen geht durch den Raum. Alle suchen nach Antworten. Mehrere Stimmen erheben sich. Eine Dame hinten links ergreift das Wort. Sie gibt zu verstehen, dass sie Angst habe. Sie selbst sei psychisch nicht sehr stabil. Und vielleicht gehe es anderen auch so. Viele im Saal stimmen ihr zu. Die Antwort ist, Ruhe zu bewahren und sich auf die Meditation zu konzentrieren. Drei Stunden später folgt die Fragerunde.
Die nächste Anweisung vom Tonträger lautet, uns noch mehr zu konzentrieren, uns weniger zu bewegen. Ich bin empört. Bei mir passiert genau das Gegenteil. Ich kann meinen Geist nicht ruhig halten. Unbeantwortete Fragen gehen mir durch den Kopf.
Ich habe mich zuvor nicht wirklich auf den Kurs vorbereitet, ich bin mit einem möglichst unbefleckten Geist gekommen. Bis auf eine Sache, einen Podcast, der beschrieb, wie wichtig es ist, zu wissen, wie das Zentrum mit solchen Vorfällen umgeht. Keine komplizierten Fragen. Unsere Führerin sollte uns bewusst machen, dass solche Dinge passieren können und wie sie darauf vorbereitet sind. Mehr nicht. Ich verlasse den Raum aus Protest. Rebellisch!
Unser Betreuer folgt mir. Er bittet mich, ruhig zu bleiben und die anderen nicht zu stören. Was ich auch nicht vorhatte.
Nächste Sitzung. Neue Anweisungen. Die sogenannte Charla, wage übersetzt das Schwätzchen, eine Stunde, in der uns Anweisungen für den nächsten Tag gegeben werden. Währenddessen wird Blanca nach draußen gerufen. Ungewöhnlich! Irgendetwas ist passiert. Nach ein paar Minuten gehe ich nach draußen. Ich sehe Alejandro, der Mann der umgekippt ist, und Blanca in einiger Entfernung miteinander reden. Er sieht aufgebracht aus.
Sie trennen sich. Alejandro geht mit seiner Tasche in Richtung Parkplatz. Ich folge ihm. Will mich vergewissern, dass er in seinem Zustand nicht Auto fährt. Daniel folgt mir. Auf dem Parkplatz sehe ich, dass noch ein Mann bei Alejandro ist, ein Freund. Alejandro sagt mir schroff, angespannt, fast aggressiv, dass ich mein Schweigegelübde nicht brechen solle, dass es ihm gut gehe, dass alles seine eigene Schuld sei, weil er sich vor ein paar Wochen den Kopf gestoßen habe und es deshalb zu dem Vorfall gekommen sei. Er fährt nicht selbst, sondern sein Freund.
Wieder fängt mich Daniel ein. Ich sage ihm, dass mein Vertrauen zerstört ist. Seine Reaktion ist wieder nur Ruhe bewahren und den Ablauf nicht stören. Jeder ist hier auf seinem eigenen Weg. Ich verspreche, mich nicht weiter einzumischen.
Sprechstunde
Um 21 Uhr ist die Fragerunde. Wie versprochen halte ich mich zurück. Ich warte darauf, dass die anderen die richtigen Fragen stellen. Plötzlich kommt Alejandro nach vorne und entschuldigt sich, dass er den Ablauf gestört habe. Alles sei seine Schuld. Mit gesenktem Kopf verlässt er sichtlich beschämt den Raum. Er erscheint mir wie ein Bauernopfer.
Der Kollege vor mir meldet sich. Er wird auf das Kissen vor Blanca gebeten. Er erklärt, dass er selbst Lehrer sei. Seiner Meinung nach geht es beim Unterrichten nicht nur um das Lehren, sondern auch darum, sich in seine Schüler einfühlen zu können.
Blanca stimmt ihm zu und erklärt, was Empathie für sie bedeutet. Es ist die Fähigkeit, sich in sein Gegenüber, in seine Situation hineinzuversetzen. Leider hat sie ihr theoretisches Verständnis an diesem Tag nicht in die Praxis umgesetzt. Alles, was im Vordergrund stand, war ihr Programm durchzuziehen. Wie der Busfahrer bei meiner Ankunft konnte sie keinen Moment von ihrem Fahrplan abweichen.
Kein einziges beruhigendes Wort während der gesamten Sitzung, kein Wort darüber, wie man sich vorbereitet, was passieren kann und wie man mit solchen Situationen umgeht.
Ich beschließe, am nächsten Tag abzureisen. Mein ganzes Zimmer verbringt die Nacht ohne viel Schlaf.
Vor der Abreise
Bevor ich gehe, bitte ich noch um ein Gespräch mit Blanca. Sie erklärt mir, dass es auch für sie eine schwierige Situation war, die sie ohne Führung auf sich alleeine gestellt bewältigen musste. Sie habe einfach nur versucht, zu beruhigen. So wie es die Vipassana-Lehre verlangt. Wir müssen lernen, mit solchen starken Gefühlen umzugehen. Sie zu kontrollieren und nicht einfach zuzulassen. Das ist der Kerngedanke der Meditation. Den Geist für schwierige Situationen zu stärken. Sie vergleicht es mit einem Sturm, der kommt und geht. Überreaktionen haben für sie keinen Platz.
Was für einen erfahrenen Meditierenden in der Theorie sicher stimmen mag, hat bei uns Anfängern nicht funktioniert. Ich hätte mir mehr Führung und Mitgefühl von ihr gewünscht. Ich hoffe, dass sie sich bei den nächsten Kursen meine Bitte zu Herzen nimmt, auf die Gefahren hinzuweisen und zu zeigen, dass sie und ihr Team in der Lage sind, entsprechend zu reagieren und die Anfänger nicht einfach im Stich zu lassen.
Wie geht die Reise für mich weiter?
In dem Moment, als ich mich entschied, den Kurs zu verlassen, wusste ich, dass ich mich wieder für einen Kurs in einem anderen Zentrum anmelden wollte. Ich bin sicher, dass Vipassana meinen Horizont erweitern kann, und ich möchte dem noch eine Chance geben.
Im Nachhinein hätte ich vielleicht gelassener auf die Situation reagieren können, im Grunde hat Blanca Recht, aber ich war in dem Moment nicht dazu in der Lage. Meine Entscheidung zu gehen war also richtig. Vielleicht werde ich eines Tages mental stark genug sein, um mit starken Gefühlen besser umgehen zu können.
Jetzt, zurück in der Zivilisation, ist es wie nach einer langen Bergtour. Meine Sinne sind nach diesen vier Tagen um ein Vielfaches geschärft. Ich spüre kleinste Veränderungen auf meiner Haut, jedes Geräusch taucht in meinem Wahrnehmungsspektrum auf. Ich nehme meine Umwelt umfassender wahr. Ich höre die leisesten Geräusche um mich herum. Nichts scheint mehr ausgeblendet.
Was hättet ihr an meiner Stelle getan? Wärt ihr geblieben?
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