100 km < 24h
100 Kilometer?! Hab ich sie noch alle?
Und diese Qualen!
Okay – einmal tief durchatmen. 100 Kilometer. Zu Fuß. In unter 24 Stunden. Wer kommt denn auf so eine Idee?
Ich. Und mein Leidensgenosse Jonas.
Solche Abenteuer klingen ja immer genial, wenn man sie spätabends bei einem Glas Wein ausheckt. Die Realität sah dann … ein bisschen anders aus. Von Blasen, brennenden Muskeln und einer Pizza-Überraschung reden wir gleich – aber fangen wir vorne an.
Der Proviant: Nudelsalat, „Erdnusswatschen“ & der Plan mit den Läden
Bevor wir überhaupt einen Fuß auf die Strecke gesetzt hatten, war klar: Ohne richtig Mampf geht hier gar nix. Jonas hat einen Familien-Topf Nudelsalat zubereitet, und ich hatte meine berüchtigten „Erdnusswatschen“ im Gepäck – Wraps mit Erdnussbutter, Nutella, Obst und Nüssen. Klingt wild? Ist wild. Aber pures Energie-Gold.
Dazu noch Müsliriegel für den schnellen Zucker-Kick für die kleinen Pausen. Ursprünglich wollten wir ja unterwegs in Läden einkaufen – wir sind extra von Donnerstag auf Freitag gelaufen, damit alles offen ist. Am Ende haben wir: nichts nachgekauft. Null. Nada.

Alles, was wir dabeihatten (plus eine kleine Café-Ausnahme mit süßem Stück), hat gereicht. Und bei 100 Kilometern darf man sich ja wohl was gönnen, oder?

Startschuss mit Verspätung und der erste Schmerz
Wir sind natürlich zu spät los. Weil: Wer ist bei so einem Wahnsinnsplan schon pünktlich? Der Zug war es zumindest nicht.

Aber die ersten Kilometer durch die Weinberge der Deutschen Weinstraße? Magisch.
Sanfte Hügel, Reben bis zum Horizont – da vergisst man kurz, dass man gerade freiwillig in ein 24-Stunden-Marterritual einsteigt. Und die Strecke? Dank perfekter Beschilderung der Deutschen Weinstraße praktisch narrensicher. Theoretisch braucht man gar kein Navi.

Aber dann: der rechte Fuß. Autsch. Der Spann tat höllisch weh – und zwar richtig früh. Ich hatte echt Schiss, dass ich abbrechen muss.
An der 50-Kilometer-Marke, halb durch, auf einer Bank: Schuhe aus. Massieren. Durchatmen. Dann kam die Erinnerung an Neuseeland: zu fest geschnürte Schuhe = angeschwollene Füße = Schmerz. Einmal locker geschnürt – und weiter ging’s. Manchmal ist die Lösung wirklich so banal.

Pizza, Engel & ein Tanz
Unsere Pausenregel: alle 10 Kilometer kurz stoppen. Klingt banal – war Gold wert. Der Körper braucht’s, der Kopf sowieso.
Und dann, bei Kilometer 38, kam das Highlight: Sabrina und Linah. Zwei Engel in Menschengestalt. Mit Pizza, alkoholfreiem Weizen, Snacks – sogar Gummibärchen. 20 Uhr– und dann das. Sabrina hat zur Begrüßung getanzt. So wie man unsere Energiebündel kennt. Wie geil ist das denn? Pure Magie, pure Motivation.
Kurz darauf, in der Innenstadt von Neustadt, spricht uns eine Frau besorgt an. Wir sollten uns beeilen, die Kneipen machen gleich zu. Als wir ihr erklären, dass wir keine Kneipentour machen, sondern auf Langstrecken-Wanderschaft sind, schaut sie uns an wie Aliens. Versteh ich irgendwie.
Nachts wach, dank Stirnlampe und Jonas’ eiserner Disziplin
Die Nacht war unsere größte Unbekannte. Müdigkeit, Dunkelheit, Kälte – das volle Programm. Aber: Wir wurden kaum müde. Adrenalin sei Dank. Die Stirnlampen leuchteten den Weg, die Gespräche hielten uns wach, und Jonas? Wurde zum Pausen-General.

„Nein, erst bei Kilometer 60 machen wir Pause. Die Bank ist zu früh!“ – Er hatte recht. Hätte ich vorher nie gedacht. Wenn man den Rhythmus einmal aufgibt, wird’s zäh.

Kurz vor Sonnenaufgang dann der Moment: 4:30 Uhr dämmert es, 5:00 Uhr hell. Die Sonne im Rücken, und plötzlich ist alles wieder sichtbar. Die Weinberge, die Hügel – wie ein Reset fürs Hirn. Magisch. Wieder Energie im Tank.

Höhenmeter-Drama & der Radweg der Vernunft
Die erste Hälfte: 1200 Höhenmeter. Eigentlich dachten wir, das Schlimmste sei geschafft. Haha. Denkste. Am Ende waren’s über 2600. Upsi.

Also Plan B: nicht mehr den kompletten Wanderweg gehen, sondern nachts auf einen Radweg ausweichen – flacher, direkter und in der Dunkelheit ohne Verkehr eh egal. Wir haben dadurch ein paar Kilometer verloren, aber was soll’s. Die 100 mussten trotzdem voll werden.
Die letzten Kilometer: Hölle auf Asphalt
Wir mussten also extra Schleifen laufen. Die letzten Kilometer? Absolute Qual. Die Muskeln? Feuer. Der Kopf? Im Tunnel. Jeder Schritt schmerzte. Aber: Aufgeben war eine Option, die mir die letzten 20 Kilometer immer wieder in den Kopf kam. Ohne Jonas wäre sie vielleicht sogar Realität geworden.

8 Kilometer vor unserem Ziel Weißenburg, in Frankreich, setzen wir uns nochmal am Straßenrand hin. Die Luft ist endgültig raus. Jonas versucht alles zusammenzuhalten. Nicht nur dass es noch 8 km waren bis zum angepeilten Ziel, sondern, dass uns durch unsere “Abkürzung” auch noch mehr als 4 km fehlten. Jonas schlägt eine Route vor, die uns in die Felder hinausführt, um dort weitere Meter zu machen. Ich wollte eigentlich ohne Schmerzmittel, doch ich konnte nicht mehr. Pille rein, Musik auf die Ohren und los – im Tunnel aufs Ziel zu.
Der letzte Meilenstein war für uns das Weintor in Schweigen-Rechtenbach, das offizielle Ende der Deutschen Weinstraße. Leider erst bei Kilometer 97,5. Wir mussten noch die französische Grenze überqueren und in Weißenburg ankommen, um die 100 voll zu machen.
Immer wieder Schilder, die uns das Ziel als nah verkauften, 2,5 km bis Weißenburg, 1 km, dann wieder ein Kilometer bis zum Zentrum, 1 km bis zum Bahnhof. Es schienen unendliche 1 km zu sein. Hört das denn nie auf.
Ich habe sekündlich auf die Uhr geschaut. 99,8… 99,9… 100,0. Dann: Bank gesehen – hingesetzt – zusammengebrochen. Keine Dramatik, einfach nur Stille. Beine ausstrecken. Schmerzen dehnen. Und vor allem: Nicht. Mehr. Laufen. Müssen.

Roaming gone wrong – oder: Wo ist Linah?
Euphorie? Nur kurz. Jonas’ Freundin Linah sollte uns am Bahnhof abholen – aber: Kein Empfang. Kein Klingeln. Nichts. Jonas wollte sie zu Fuß suchen. Ich wartete, froh keinen Schritt mehr machen zu müssen.
Am Ende war alles ganz einfach – wir waren in Frankreich und sie hatte kein Roaming an. Klassiker.
Ein Band für die Ewigkeit
Was bleibt? Eine irre Erfahrung – und ein echtes Band. Jonas und ich kennen uns lange, aber in letzter Zeit sind wir richtig zusammengewachsen. Weniger Party, mehr Natur, mehr Tiefe.
Alleine hätte ich das niemals geschafft. Wir haben uns gegenseitig getragen – körperlich und mental. Und wenn einer von uns aufgegeben hätte? Wäre der andere wahrscheinlich mitgefallen.
So ein Abenteuer zeigt: Es geht nicht nur um Strecke, Zeit oder Ausdauer. Es geht um Verbindung, Vertrauen – und darum, sich gemeinsam durchzukämpfen.
100 Kilometer. Zwei Freunde. Und ein Erlebnis, das bleibt.
Würde ich es nochmal machen. Sicherlich nein. Will ich die Erfahrung missen? Auch ein klares nein.
Am Ende waren wir bei genau 100 km, über 2000 Höhenmetern. Das ganze in wenig mehr als 23 Stunden, wovon wir 4 Pause gemacht haben.
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